■ Selbstreinigung des politischen Systems kraft Skandale?
: Achtung! Zurückgetreten!

Kleines Politquiz zum Jahresende. Was verbindet folgende Deutsche: Jürgen Möllemann, Christine Weiske, Günther Jansen, Petra Uhlmann, Björn Engholm, Günther Krause, Heide Pfarr, Franz Steinkühler, Max Streibl, Wolfgang Kubicki, Rudolf Seiters, Jochen Wolf, Berndt Heydenmann, Klaus Kilimann, Steffen Heitmann, Traute Müller, Werner Münch, Horst Rehberger, Hartmut Perschau und Werner Schreiber?

Richtig: Sie alle waren im politischen Geschäft tätig gewesen, wollten drohenden Schaden von ihren Ämtern abwenden und traten daher von diesen zurück.

Verteilt über das Jahr 1993 verschwanden 20 Personen der politischen Elite Deutschlands von der medialen Bildfläche. Durch ihren Weggang wurden insgesamt 23 Ämter frei: drei Bundesminister, drei Ministerpräsidenten, sechs Landesminister, drei Landesministerinnen, ein Bundesparteivorsitzender, zwei Landesparteivorsitzende, ein Oberbürgermeister, eine Vorstandssprecherin, ein Gewerkschaftsvorsitzender, ein Kanzlerkandidat, ein Bundespräsidentenkandidat.

Es hätten leicht mehr werden können. Man denke an die „Dienstwagen-Affäre“ der Rita Süssmuth, oder die „Ruhegeld-Affäre“ des Hans Eichel. Es muß an den zu dünnen Nerven von Günther, Heide, Horst, Hartmut und denen der beiden Werners gelegen haben, oder an den zu dicken von Rita, Oskar, Klaus und Hans, daß nicht alle auf unserer Liste stehen.

Aber auch ohne diese vier Stehfesten: ist es nicht großartig, wie die Selbstheilungskräfte der wehrhaften Demokratie für politische Hygiene sorgen? Es spaße keine und keiner mit der Achtung vor der Ehrsamkeit. Wer frevelt, wird geopfert, wie einst die Stiere auf dem Altar, um die unerbittlichen Götter der politischen Sauberkeit zu besänftigen. Nur wenn das kultische Opfer ihnen zur Sühne geschlachtet worden ist, sind die Gottheiten bereit zur Vergebung.

Sind Skandale die Abführmittel der Politik?. Selbst wenn's ein wenig stinkt, Hauptsache es wirkt? In keinem der soeben erwähnten Fälle war es das „politische System“, das für die Aufdeckung von Mißständen und möglichen Gefahren von Machtmißbrauch sorgte. Im Gegenteil. Die politische Kaste versuchte einiges, um zu verhindern, daß der Skandal was in sein blutiges Maul bekäme. Es waren die Medien, die Journaille, diese Bluthunde, diese schmierenden und blitzlichternden Todesschwadronen, die immer wieder schrill „Skandal“ geschrien hatten. Sie waren es, durch die sich der vorher so medienbuhlende Wirtschaftsminister nach Aufdeckung der „Briefbogen-Affäre“ so belästigt fühlte, sie waren es, die dem „guten Menschen“ Günther Jansen seine Zigarrenkiste hinhielten, sie waren es, die die „Amigo-Affäre“ komponierten, die uns von den unsäglichen „Pannen“ in Bad Kleinen berichteten.

Entgegen aller Propaganda im Schulfach „Gemeinschaftskunde“ war es nicht das politische Selbstkontrollsystem, aber auch nicht die Justiz, die uns diese Skandale auch nur gemeldet hätten. Sehr berechtigt fragte die Süddeutsche Zeitung, wo eigentlich bei uns das Pendant zu dem tapferen Mailänder Staatsanwalt Antonio Di Pietro bleibe. Wann werden auch bei uns Strafjuristen zu Volkshelden?

Zur Aufdeckung der politischen Skandale der Bundesrepublik, und nicht nur der im vergangenen Jahr, hat die deutsche Justiz wenig beigetragen. Sie hat im Gegenteil bei den aberwitzigsten Verschleierungsmanövern mitzuhelfen versucht. Heribert Prantl brachte es in der SZ auf den Punkt: „Die deutsche Strafverfolgung ist offensichtlich nicht in der Lage, einen Konflikt mit der Politik durchzustehen, weil sie von der Politik abhängig ist.“ Italien, du hast es besser, bei dir sitzt die Justiz nicht im Käfig der Politik.

An die Stelle des Glaubens an die famosen Selbstheilungskräfte des politischen Systems und des Rechtsstaates traten drei Fragen, die mich das Skandal-Schlachtfest im Jahr 1993 begleiteten.

Die erste Frage. Kann es wirklich „zufällig“ sein, wann bestimmte skandalöse Formen des Machtmißbrauchs, der Korruption oder der politischen Erpreßbarkeit einzelner Polit-Profis bekannt gemacht werden? Nur ganz selten war es der monatelangen investigativen Recherche zu verdanken gewesen, daß bestimmte Details publiziert werden konnten. Wer bestimmte das „Timing“ der Gewissensnöte der Informanten? Wer bestimmte, wann publiziert wurde?

Die zweite Frage: Woher kommt die unglaubliche Gier, diese Gier nach immer mehr Geld, bei Leuten, die doch eigentlich ausgesorgt haben? Da bekommt ein Minister mehr als 200.000 Mark und versucht dennoch, jenes Geld, das er in seiner Bonner Abgeordnetenzeit für einen Mitarbeiter überwiesen bekam, noch zusätzlich auf sein Konto zu lenken. Was wollte er damit anfangen?

Die dritte Frage: Als sie dann ertappt waren und dreist, ohne jedes Zeichen von Unrechtsbewußtsein, vor den Kameras standen, warum haben sie nur über „ehrverletzende Rufmord-Kampagnen“ gezetert, über die mögliche Beschädigung ihrer Familien, ihrer politischen Ämter oder ihrer Parteien gesülzt? Warum hat nicht wenigstens eine oder einer die einzigartige Chance genutzt, anstelle geheuchelter Ehrenworte mal ganz deutlich zu sagen, was das Machtgeschäft aus eigentlich ganz normalen Menschen machen kann?

Was wäre gewesen, wenn Franz Steinkühler nicht einfach heldenmäßig abgetreten wäre, besorgt um den Schutz seiner Familie oder die künftige Durchsetzungsfähigkeit seiner IG Metall? Sondern in die Kameras davon erzählt hätte, wie das ist, als ehemaliger Werkzeugmacher neben Leuten zu sitzen, die seine Spekulationsgewinne als Monatsbezüge überwiesen bekommen, die ihm ja vielleicht sogar die heißen Tips gegeben haben, damit er auch mal zu was kommt. Wie muß das gewesen sein, Leute „kontrollieren“ zu sollen, denen sein Monatsgehalt wie die Unkosten für ihr Hausmeisterehepaar vorkam?

Und er hätte ruhig mal öffentlich fragen können, wem wohl seine Beschädigung „durch eigene Fehler“ nutzen wird, wer „die Häme unserer Gegner“ geschürt hat, wer die „interessierte Seite“ gewesen sein könnte, die ihn mit seiner eigenen Begehrlichkeit geködert und dann erlegt hatte.

So hätte die diesjährige Strecke der Skandal-„Opfer“ aus der politischen Klasse eine große Chance im Leben der zweiten deutschen Republik werden können. Es hätte zu einem Innehalten und Nach- Denken führen können.

Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der politischen Kaste ist schon lange dahin, der Glaube an ihre Redlichkeit gewaltig erschüttert. Der nächste Opferstier wird wohl schon markiert sein, die Schlächter prüfen wahrscheinlich gerade die Schärfe der Klingen, das Schlachten wird weitergehen. Es wird mehr auf der Strecke bleiben als deutsche Politkarrieren. Jedes Volk bekommt die Skandale, die es verdient, und dies genau so lange, so lange es sie hinnimmt. Dirk Käsler

Der Verfasser lehrt Allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg