Ein Gesetz gegen Folter und Korruption

In Mexiko haben Opfer von Menschenrechtsverletzungen ab 1. Januar ein einklagbares Recht auf staatliche Entschädigung / Ein Ombudsmann nimmt Beschwerden entgegen  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Mexiko auf dem Weg in die Moderne: Zeitgleich mit dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta tritt am 1. Januar 1994 in der mexikanischen Hauptstadt eine am Montag verabschiedete Strafrechtsreform in Kraft. Das nach langer kontroverser Debatte durchgesetzte Reformpaket ist ein Novum in der mexikanischen Gesetzgebung: Es klassifiziert Folter, Geldwaschanlagen und den Handel mit illegalen Wanderarbeitern als „schwere Verbrechen“. Ursprünglich vorgesehene angebliche Straftatbestände wie „Aufruhr“, „Rebellion“ und „Zusammenrottung“ verschwanden hingegen aus dem Gesetz. RegierungskritikerInnen hatten gewarnt, daß mit solchen Gummiparagraphen politische Versammlungen leicht kriminalisiert werden könnten.

Einen wichtigen Einfluß auf die Entstehung des Gesetzes hatte die „Menschrechtskommission“ für Mexiko-Stadt, ein neues Gremium, das Staatschef Carlos Salinas de Gortari gerade erst aus der Taufe gehoben hat. Gut drei Jahre nach der Einrichtung der landesweiten „Nationalen Menschenrechtskommission“, die sich mit den Übergriffen der öffentlichen Gewalt im ganzen Land anlegt, bekam die 20-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt mit der „Menschenrechtskommission“ erstmals eine eigene Beschwerdeinstanz. In der politischen Szene der Stadt gab es kaum Einwände gegen die Schaffung der neuen Institution und ihren Direktor, den liberalen Juristen Luis de la Barreda. Nur die Tatsache, daß Ombudsmann de la Barreda per Fingerzeig von oben eingesetzt wurde, brachte Menschenrechtsgruppen auf die Palme. Um sie zu beruhigen, schuf die Regierung einen zehnköpfigen Beraterstab, der dem ersten Ombudsmann in der Geschichte der Hauptstadt zur Seite stehen soll. Diese Berater, darunter prominente linke Intellektuelle, erklärten bereits, daß sie unter Menschenrechten nicht nur die klassischen Individualrechte verstehen, sondern auch die Verteidigung kollektiver Arbeits- und Bürgerrechte. So wollen sie auf „Sauberkeit“ bei den kommenden Präsidentschaftswahlen achten.

Schon die offizielle Kriminalitätsquote von Mexiko-Stadt macht klar, wie notwendig die neue Beschwerdestelle ist: Täglich werden in Mexiko-Stadt durchschnittlich fünf gewaltsame Todesfälle angezeigt, dazu kommen sieben sexuelle Angriffe, 110 Diebstähle, 56 geklaute Autos und rund 60 Körperverletzungen. Mehr als „zivile“ Mörder, Diebe und Vergewaltiger aber scheinen die StadtbewohnerInnen die uniformierten Ordnungshüter zu fürchten: Nach einer von der städtischen Justizverwaltung in Auftrag gegebenen Umfrage haben fast 80 Prozent der Befragten eine „sehr mißtrauische“ Einstellung gegenüber der Polizei, und um die 90 Prozent sind davon überzeugt, daß es im Polizeiapparat „viel“ oder „sehr viel“ Korruption gibt.

Die Liste der Beschwerden reicht von den alltäglichen mordidas – den Schmiergeldern im Straßenverkehr – über willkürliche Festnahmen, Erpressungen, rechtswidrige Razzien – bevorzugt bei Jugendlichen, Homosexuellen und Prostituierten – bis hin zu Mißhandlungen, erzwungenen Geständnissen und vorfabriziertem Beweismaterial. Gegen den Staat im Staat vorzugehen traut sich bislang nur ein kleiner Teil der Schikanierten: 1990 gingen gerade mal 3.000 Anzeigen gegen polizeiliche Übergriffe ein. Und selbst diese, so die Feministin Amalia Garcia, blieben fast alle juristisch folgenlos. Die Gründe dafür faßt die Abgeordnete und Expertin für öffentliche Sicherheit zusammen: „Schlamperei, Unverantwortlichkeit oder die offene Deckung der Täter“.

Ein Beispiel ist der 21. August 1992. An diesem Abend ist der Orchestermusiker José de Jesús Lira auf dem Wag nach Hause, als eine Polizeipatrouille seinen Wagen anhält. Die Uniformierten zwingen ihn, in ihren Kombi einzusteigen. Drinnen wird er geschlagen, gedemütigt, mit Vergewaltigung bedroht. Schließlich setzen sie ihn an der Straße ab und warnen ihn davor, den Angriff anzuzeigen. Tatsächlich wartet der verängstigte Musiker einige Tage, bis er sich, am 2. September, schließlich doch zur Anzeige entschließt. Einen Tag später ist er tot. Der Kommentar des zuständigen Polizeiintendanten: es habe sich um „verkleidete Verbrecher“ gehandelt, die ein Fahrzeug als Polizeipatrouille angemalt hätten. Der Fall ist bis heute ungelöst.

Oder der 24. Juni 1993. In dieser Nacht wird im Stadtzentrum ein junger Mann von einer Polizeistreife angehalten. Die Polizisten verlangen die berüchtigte mordida. Der Junge weigert sich zu zahlen und wird daraufhin gezwungen, in das Polizeiauto einzusteigen. Drinnen das gleiche Spiel: Tritte, Schläge, er soll vergewaltigt werden. Er wird bewußtlos. Als er aufwacht, verlangen die Uniformierten 30 Millionen Pesos – rund 15.000 Mark – von ihm; andernfalls würden sie ihn wegen Drogenbesitzes anzeigen. Schließlich begnügen sie sich mit den Wertsachen und dem Geld, das er bei sich trägt, und „beschlagnahmen“ das Auto. Der Fall wurde angezeigt – und harrt weiterhin der Aufklärung.

Dies sind nur zwei von über hundert „unaufgeklärten“ Anzeigen, die jetzt der Menschenrechtskommission übergeben wurden. Der Straffreiheit für polizeiliche Willkür in der Hauptstadt soll jetzt der Kampf angesagt werden. Auch die „alltägliche Verletzung von Menschenrechten“ in den Amtsstuben von Polizei und Justiz sowie in den chronisch überbelegten Gefängnissen der Stadt stehen auf der Tagesordnung des neuen Gremiums.

In der Debatte über die Strafrechtsreform hatten die Menschenrechtsgruppen keinesfalls all ihre Einwände geltend machen können. Besonders strittig ist die Erweiterung der Kompetenzen der Bundesstaatsanwaltschaft, die sich bislang nicht gerade durch Ehrlichkeit und Sauberkeit bei der Verbrechensbekämpfung ausgezeichnet hat. Nach dem neuen Gesetz kann die Bundesstaatsanwaltschaft Festnahmen ohne richterlichen Haftbefehl veranlassen und Verdächtige bis zu 96 Stunden festhalten, bis sie einem Haftrichter vorgeführt werden müssen. Dadurch werden, so das Nationale Netzwerk der Menschenrechtsorganisationen, „die Bürger der – nunmehr legalisierten – Willkür von Staatsanwaltschaft und Polizei ausgesetzt.“

Immerhin haben mit dem neuen Gesetz künftig Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein einklagbares Recht auf staatliche Entschädigung. Außerdem ist ein Geständnis nur noch dann rechtswirksam, wenn es in Anwesenheit eines Rechtsanwaltes oder einer Vertrauensperson gemacht wurde. Schließlich sollen Konsumenten, Bauern und Händler von Drogen in Zukunft differenziert behandelt werden; Faktoren wie ökonomische Bedürftigkeit fließen in das Strafmaß ein, und der bloße Besitz von Drogen „für den persönlichen Gebrauch“ wird, bei einer Erstfestnahme, künftig nicht mehr strafbar sein.