Der Himmel ist hoch und die Hauptstadt ist weit

■ Wo die neuen ökonomischen Realitäten ihre Opfer fordern, gedeiht die Erinnerung an Mao: Täglich pilgern 20.000 ChinesInnen zum Granitmausoleum im Herzen Pekings

„Mao Zedong: Man, not God“ heißt die jüngste Publikation des Pekinger Fremdsprachenverlags. Die rührseligen Erinnerungen eines einstigen Leibwächters des „Großen Steuermanns“ sind nur einer von vielen Bausteinen in einer großen chinesischen Büchermauer zum 100. Geburtstag Maos. Sie könnten keinen besseren Titel tragen. Denn die Geschichte hat sich mit dem Kult um den großen Vorsitzenden einen ihrer ironischen Schlenker geleistet: Ausgerechnet der Mann, der in China eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung durchgesetzt hat, die strengste Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nimmt, wird hier zum Objekt geradezu religiöser Verehrung. In Maos Heimatdorf Shaoshan bringen Pilger aus den rückständigeren Landesteilen Opfergaben dar. Die religiöse Inbrunst dieser Leute ist verständlich; es muß den Bauern ja wie ein Wunder vorgekommen sein, daß sich nach 3.000 Jahren chinesischer Geschichte endlich jemand für ihr beklagenswertes Los interessierte.

Die Dorfbewohner selbst indes haben rechtzeitig zum Geburtstag eine neue Bronzestatue fertiggestellt, die Mao in fünffacher Lebensgröße als jungen Studenten mit einem Buch in der Hand zeigt. Und die Hauptstraße von Shaoshan ist gesäumt von Souvernirständen voller Kitsch: Mao-Büsten aus Plastik, Mao-Bilder in leuchtendem Rahmen und herzförmige Medaillons mit Mao-Porträt. In ganz China hängt ausgerechnet das Konterfei des Mannes, auf dessen Geheiß Abermillionen fanatisierte Jugendliche alles zerstörten und verfolgten, was auch nur entfernt nach Aberglaube aussah. Taxifahrer, die ein Mao-Bildchen als Glücksbringer am Rückspiegel befestigt haben, glauben, Mao beschütze sie als eine Art Heiliger Christophorus mit chinesischer Charakteristik vor Unbill aller Art.

„Mao Zedong: Man, not God“ – dieser Titel ist zugleich Beschwörung. Denn nichts fürchtet die Pekinger Führung mehr als eine Wiederauferstehung Maos – oder seiner radikalen Gedanken. Fruchtbaren Boden für radikale Parolen gäbe es genug. Da haben nach amtlichen Angaben knapp 100 Millionen ihre Dörfer verlassen, um woanders nach einem besseren Leben zu suchen. Das dramatische Wohlstandsgefälle zwischen den reichen Küstenprovinzen – speziell des Südens – und dem riesigen Hinterland hat sie dazu getrieben. Da kommt es in den ärmeren Landesteilen immer wieder zu Bauernaufständen; Ursache sind häufig übermäßige Steuern und korrupte Beamte. Zwar hat die Regierung eine Kampagne zur Bekämpfung der Korruption gestartet und im Sommer den Provinzregierungen die Erhebung eines guten Dutzends verschiedener Abgaben untersagt. Ein chinesisches Sprichwort aber sagt: Der Himmel ist hoch und die Hauptstadt ist weit.

Viele Chinesen bekommen inzwischen die Kehrseite des wirtschaftlichen Booms sowie der Reform und Öffnung zu spüren: Die Inflation galoppiert, und die Arbeitslosigkeit steigt. Während also die neuen ökonomischen Realitäten ihre Opfer fordern, stellt gleichzeitig die neue Schicht der Großverdiener ungehemmt ihren Reichtum zur Schau. Da gedeiht die Erinnerung an Mao, seine sozialistischen Parolen und den von ihm gepredigten Egalitarismus – so gut, daß sich trotz eisiger Winde tagtäglich 20.000 Menschen in die Schlange vor dem Granitmausoleum auf dem Tiananmen-Platz im Herzen Pekings einreihen, um einen Blick auf den Glassarg mit der einbalsamierten Leiche des großen Vorsitzenden zu werfen.

So gern sie es vielleicht täte, den 100. Geburtstag Maos kann die Reformriege um Deng Xiaoping – die in diesem Jahr ihrem Konzept einer sozialistischen Marktwirtschaft sogar Verfassungsrang verliehen hat – nicht ignorieren. Die Lösung der Quadratur des Kreises: Offiziell gefeiert wird der junge Freiheitskämpfer der dreißiger und vierziger Jahre, ebenso der gütige Landesvater der fünfziger Jahre. Der Mao der Kulturrevolution indes wird weitgehend ausgeklammert in den unzähligen Büchern, Artikeln, Festschriften und Spielfilmen zum Jubiläum.

Zumindest in einem Punkt allerdings harmoniert die Maomanie vortrefflich mit der Reformpolitik: Sie läßt sich wunderbar vermarkten. Wer gut 1.000 Dollar übrig hat, kann mit ein bißchen Glück eine der brillantbesetzten goldenen Uhren mit Maos Abbild ergattern, von denen eine Uhrenfabrik in Shanghai 9.999 Stück hergestellt hat. Ein chinesischer Arbeiter muß dafür im Schnitt rund 30 Monate arbeiten. Auf weniger prall gefüllte Brieftaschen zielen denn auch die auf Straßenmärkten angebotenen Mao-Feuerzeuge, T-Shirts, Thermometer, Krawattennadeln und was sich an Accessoires sonst noch so alles denken läßt. Die Vermarktung des „Großen Steuermanns“ hat nicht einmal vor dem Allerheiligsten haltgemacht: Maos Mausoleum. Der Maler Liu Yuyi hat die Erlaubnis erhalten, sein Gemälde „Festlicher Abend“ von den Mausoleumswänden zu nehmen und in Hongkong zu versteigern. Edgar Fog, Peking