„Sie sollten lieber der Polizei helfen“

In Schweden ist ein Untergrundnetzwerk entstanden: Privatpersonen, Initiativen und Kirchengemeinden verstecken über fünftausend Flüchtlinge, deren Asylanträge abgewiesen wurden  ■ Von Reinhard Wolff

„Alle, die bisher bei uns gewohnt haben, durften bleiben. Ist das nicht ein Beweis für die Willkür der Einwandererbehörde?“ Angefangen hatte es vor vier Jahren, an einem Sonntagnachmittag mit Kaffee und Kuchen in einer kleinen Kirchengemeinde in Stockholm. Auch einige Flüchtlingsfamilien waren da. „Ruft an, wenn ihr irgendwann mal Hilfe braucht“, hatte Maria gesagt und ihre Telefonnummer auf einen Zettel gekritzelt. Einige Wochen später klingelte es. Am Telefon der Vater einer Familie mit drei kleinen Kindern, die ihre Asylablehnung bekommen hatten. Sie zogen ein, für ein paar Monate. Die, die Maria und Gunnar in den letzten Jahren in ihrem Haus versteckt hatten, wären in ihre Heimatländer ausgewiesen worden, hätten sie keine Menschen gefunden, die bereit gewesen wären, das Gesetz Gesetz sein zu lassen.

Warum? Für Maria ist es „eine Schande“, wie sich ein reiches Land wie Schweden gegenüber Flüchtlingen aufführt, die hier Hilfe suchen. Gunnar: „Wie könnte ich mich sonst noch Christ nennen?“ Nachbarn und ArbeitskollegInnen wissen längst Bescheid. „Da wird nicht viel drüber geredet oder gefragt“, erzählt Gunnar. „Da ruft einfach ein Nachbarn an: ,Ich würde gerne den Leuten helfen, die bei euch wohnen. Sagt Bescheid, wenn ihr was braucht.‘ Und ein Arbeitskollege fragt unverfänglich: ,Ich kenne da einen Kurden, der muß irgendwo unterschlüpfen. Hast du eine Idee?‘ Von vielen Seiten gibt es Hilfe, Verständnis, Ermutigung.“ Maria: „Und oft von da, wo man es sich niemals hat träumen lassen.“

Ein richtiges Netzwerk ist in den letzten Jahren so entstanden. Zwischen 5.000 und 10.000 Flüchtlinge werden versteckt gehalten. JedeR fünfte rechtskräftig Ausgewiesene verläßt das Land nicht. Mehr oder weniger sichtbare Hilfe kommt nicht nur aus der unmittelbaren Umgebung, von Verwandten, Nachbarn, ArbeitskollegInnen. Auch von ÄrztInnen und Krankenhausangestellten, die bei der Behandlung nicht nach der obligatorischen Plastikkarte fragen, von LehrerInnen, die private Unterrichtsstunden anbieten. Bis hin zum Polizeibeamten, der kommentarlos einen Karton mit gebrauchtem Kinderspielzeug vorbeibringt und seine private Telefonnummer hinterläßt: wenn mal ein Problem ist.

Doch nicht alles ist Idylle. Spannungen sind vorprogrammiert zwischen der Gast- und der Wirtsfamilie. Vor allem wenn es räumlich eng zugeht. Auch Maria und Gunnar mußten Familien schon „weitergeben“. Innerhalb des Untergrundnetzes, in dem mittlerweile eine gutfunktionierende Kommunikation besteht. Maria: „Von einer Familie wurde Mithilfe in der Küche schon als Unzumutbarkeit verstanden. Das geht dann nicht lange gut.“ Andererseits sind auch Fälle bekannt, wo Bauern Flüchtlinge aus Osteuropa aufgenommen haben, um in der Erntezeit billige Arbeitskräfte zu haben. Und es kommt auch Druck von außen, gerade von Verwandten: „Was ihr macht, ist nicht richtig, das ist illegal.“

Am Anfang sei es schwer gewesen, mit solchen Vorwürfen zu leben, gesteht Gunnar ein: „Aber je mehr man sich über die Willkür der Behörden klar wird, die teilweise weniger Ahnung haben als ein normaler Zeitungsleser, desto sicherer wird man.“ Und der Kontakt mit den Flüchtlingen helfe: „Kommt denn jemand, der irgendeine Alternative hat, nach Schweden, wo er von allen da unten der allerunterste ist? Und der bleibt, auch wenn er wie ein Tier im Versteck leben muß? Ein Vater, der sich mit seinen Kindern auf den Boden kauert, und niemand darf sich bewegen, aus Angst, durchs Fenster gesehen zu werden. Ein 16jähriger, der sich dabei aus Angst in die Hose pinkelt. Wie kann sich jemand einbilden, solche Leute kommen freiwillig zu uns und nicht aus Todesangst?“ Wer sage denn, daß die SchwedInnen nicht morgen schon Flüchtlinge sein könnten? Weil ein Atomunglück in Litauen oder Rußland das Land verstrahlt und weite Teile unbewohnbar gemacht hat.

Ein einziges Mal in all den Jahren war die Polizei aufgetaucht. „Zwei junge Beamte, die ganz verlegen waren und nach Flüchtlingen fragten.“ Maria empfing sie im Morgenmantel, ihr Mann schlief noch: „Ich ließ sie bis in den Flur, sie gingen wieder. Und das erste und einzige Mal fühlte ich mich kriminell. Dabei denke ich, der Staat ist es, der die Gesetze bricht. Das war dann plötzlich nicht mehr mein Land, in dem ich aufgewachsen war. Und nicht das Land, in dem meine Kinder leben sollen.

„Der schwedische Staat führt sich auf wie ein Schwein.“ Auch in Schweden ist dies nicht der alltäglichen Sprachgebrauch einer Nonne. Doch als am 24. November zwanzig Polizisten ohne Vorwarnung und während des morgendlichen Gottesdienstes ins Alsike- Kloster eindrangen, um dort versteckte Flüchtlinge festzunehmen, suchte Schwester Marianne nicht erst nach gewählten Worten. Das Kirchenasyl war in Schweden bislang vom Staat respektiert worden. Bis exakt einen Monat vor Heiligabend.

Besian schaut mich die ganze Zeit schon mißtrauisch an. Als Mann scheint man gleich in Verdacht zu stehen, vielleicht ein Polizist zu sein. Besian ist sieben Jahre und mit seinen Eltern aus dem Kosovo gekommen. Routinemäßig als Asylsuchende abgelehnt, hat die Familie im Alsike-Kloster Unterschlupf gefunden. Wie vierzig andere Flüchtlinge. Wie seit über zehn Jahren immer aufs neue abgelehnte AsylbewerberInnen. Besians Vater war politisch aktiv, mußte sich außerhalb des Hauses der Familie verstecken. Besian war noch nicht fünf Jahre, als eines Nachts serbische Polizisten kamen, einer ihn festhielt und sich zwei über seine Mutter warfen.

Als am 24. November die schwedische Polizei das Kloster stürmte, schloß sich die ganze Familie in ein Zimmer ein. Alle schrien, waren geschockt, konnten auch von den Klosterschwestern nicht beruhigt und überzeugt werden, die Tür zu öffnen. Ein Polizeibeamter drehte durch, ging daran, die Tür einzutreten, und verletzte dann auch noch Besians Vater an der Hand. Als die Polizei ihn abführen wollte, versuchte sich Besians Mutter aus dem Fenster zu stürzen.

Daß die schwedische Polizei – wenn auch ebenso unbeabsichtigt wie unbedarft – sich nicht nur in den Augen der Flüchtlingskinder aufgeführt hat wie ihre serbischen Kollegen, rief eine Welle der Empörung in Schweden hervor. Man werde so etwas nicht wiederholen, gestand der zuständige Polizeichef den Fehler ein. Nur sind dessen Folgen nicht auszuradieren.

Schwester Karin sieht die Arbeit von Monaten zerstört: „Als die Familie aus dem Flüchtlingsheim bei Uppsala hierher kam, sprach der Junge kein Wort. Er schrie, rannte rastlos herum, prügelte sich mit den anderen Kindern. Erst nach einem halben Jahr bei uns änderte sich dies. Doch damit ist es nun vorbei.“

Sechzehn Flüchtlinge waren nach der Polizeirazzia im November ausgewiesen worden. Sechs Familien mit Kindern leben jetzt noch im Alsike-Kloster. Drei Väter sitzen nach wie vor in Haft. Haben sie vor dem Polizeiüberfall in einem Wohnhaus auf dem Klostergelände gelebt, schlafen jetzt alle Familien notdürftig auf Matratzen in der Kapelle. Den Versicherungen der Polizei schenken sie keinen Glauben. Polizeichef Lars Nylén versprach, zusammen mit Gunnar Weman, den für Alsike zuständigen Erzbischof, eine „gute Lösung“ zu finden. Und der Druck von außen auf die Bürokratie wächst, zumindest großzügig bemessene zeitliche Aufenthaltsgenehmigungen zu erteilen. Lisbeth Palme, Witwe des ermordeten Ministerpräsidenten und schwedische Unicef-Beauftragte, hat an die Regierung appelliert, bei ihren Beschlüssen vor allem das Schicksal der Kinder vor Augen zu haben.

Erzbischof Gunnar Weman bat das zuständige „Invandrarverket“, die Asylanträge der Klosterflüchtlinge neu zu entscheiden. Der Antwortbrief von Bürochefin Berit Rollén: „Ich kann nicht einsehen, warum Personen, die sich illegal im Lande aufhalten und deren Antrag von allen Instanzen geprüft wurde, eine andere Behandlung erfahren sollen als andere, nur weil jemand sie dazu benutzen will, gegen schwedisches Recht zu demonstrieren. Ich denke, Sie sollten lieber der Polizei helfen, Schwester Marianne zurechtzuweisen.“

Elisabeths drittes Kind ist vier Monate alt. Seit elf Monaten leben sie auf dem Land, von einer Bauernfamilie versteckt. Das Baby kam im Krankenhaus der nächstgelegenen Kreisstadt zur Welt. Auch die regelmäßigen Mutterschaftskontrollen waren dort vorgenommen worden. Die Angestellten im schwedischen Gesundheitswesen scheinen glücklicherweise keine großen Probleme damit zu haben, „neben“ den Vorschriften zu arbeiten. „Sie haben sogar mehrfach nach der Geburt angerufen und mich daran erinnert, daß ich immer willkommen bin.“

„Wir sind illegal hier“, hat Elisabeth aus einem afrikanischen Land, das ich nicht nennen soll, das Gespräch eröffnet. „Wir haben schon zu Hause ständig im Untergrund gelebt, weil man Mann Oppositioneller war. Es ist nichts Neues also. Nur die ersten Wochen. Da mußten wir in einem Keller leben. Das war schlimmer als zu Hause. Wir haben Angst, Angst, immer Angst. Wir gehen so gut wie nie nach draußen. Die Kinder können nicht in die Schule.“ Wie hat es Lennart Lindgren, Generalsekretär der schwedischen Kinderhilfsorganisation „Rädda Barnen“ („Rettet die Kinder“) formuliert: „Wir müssen zusammen mit den Behörden versuchen, unkonventionelle Lösungen zu finden; eine Art Schutzkorridor für die versteckt lebenden Flüchtlingskinder zu schaffen.“

„Es gibt faktisch ein Niemandsland mitten in Schweden. Eine Welt, in der Familien mit ihren Kindern außerhalb der staatlichen Fürsorge leben. Abhängig vom Mitleid anderer.“ Leif ist Kinderarzt in einem Vorort Stockholms mit hohem Einwandereranteil. Ja, auch vielen Illegalen. Viele kommen bei ihren Landsleuten unter. Bei Verwandten oder einfach Menschen aus dem gleichen Dorf. Und natürlich behandelt Leif auch die Kinder der „Illegalen“. „Es gibt ja schließlich eine medizinische Ethik. Und da sind Menschen, die Hilfe brauchen.“ Letztendlich gibt sogar die Sozialgesetzgebung Hilfestellung: Danach sind die sozialen Einrichtungen für alle zuständig, die in ihrem Gebiet leben. „Von legal oder illegal ist da nicht die Rede“, meint Leif augenzwinkernd.

Doch was hilft das den Flüchtlingskindern? Leif: „Es gibt den Typ, der sich durchsetzt. Die ,Überleber‘. Sie und ihre Familie schaffen sich eine Nische, in der sie recht normal leben. Es gibt Eltern, die sind zuversichtlich und nicht so leicht kleinzukriegen. Einige haben es geschafft, daß ihre Kinder seit Jahren die Schule besuchen. Und dann gibt es den anderen Pol. Familien in Auflösung. Ein Leben zwischen Angst, Depressionen, Streit, Alkohol und Selbstmordversuchen. Manchmal bleibe von der Elternrolle nichts mehr übrig.

Maria und Gunnar haben nicht nur einmal darüber diskutiert, ob es nicht besser wäre, die Aktion zu beenden. Denn immer wieder stellt sich die Frage nach ihren Erfolgschancen. Bislang sei es die Regel gewesen, daß die Flüchtlinge nach langem Warten Asyl oder doch wenigstens Aufenthaltserlaubnis bekommen hätten. Doch mache sich die neue restriktive Asylpolitik Stockholms nun immer deutlicher bemerkbar. Nach Alsike sei die Angst gewachsen, der Staat wolle das Versteckthalten von Flüchtlingen ernsthaft kriminalisieren.

Gunnar: „Angeblich kein Geld im Haushalt, und dann erhält die Polizei demonstrativ 100 Millionen Kronen (etwa 22 Millionen Mark) extra, um effektiver gegen illegale Flüchtlinge vorgehen zu können. Eines Tages wird sich Schweden für seine Asylpolitik verantworten müssen. So wie es sich nach dem Krieg dafür rechtfertigen mußte, für die jüdischen und baltischen Flüchtlinge die Grenzen dichtgemacht zu haben. Damals wußte die Regierung angeblich nichts von Konzentrationslagern. Doch nun sind die Bilder von ,ethnischen Säuberungen‘ im Fernsehen zu sehen.“