■ Normalzeit
: Auf der Tanzfläche wurde geprügelt...

Gewalt. An dem Thema kommt man in diesen Tagen nicht vorbei, und so dauerte es bei einem Abendessen mit Bekannten keine Stunde. Schon erzählte Anneliese, Geschäftsführerin eines linken Mittelstandsbetriebes, von einer Veranstaltung, auf der die „Gewaltfrage“ Podium und Publikum jeweils in zwei Lager gespalten habe.

Die eine Seite sei sich sicher gewesen, daß unsere Gesellschaft brutaler geworden ist. Die andere – zu der sich Anneliese bekannte – glaubte, daß seit Jahrzehnten ein und dasselbe Gewaltpotiential vorhanden sei. Und schon erzählte sie aus der Vergangenheit, von Jugendbanden auf Motorrädern, die man heute vergessen habe, die aber damals Ketten durch die Luft schleudernd ganze Dörfer terrorisiert hätten. „Wir haben uns nicht aus dem Haus getraut“, erinnerte sie sich.

Niels, ein Journalist, der immer noch nicht den Sprung zu einer renommierten überregionalen Wochenzeitung geschafft hat, schlug sich auf die andere Seite. Schließlich habe er im Fernsehen einen Beitrag mit Gerichtsmedizinern gesehen, sagte er, in dem die Wissenschaftler davon berichteten, daß heutzutage die Opfer sehr viel stärker mißhandelt würden als früher. Ich hörte interessiert zu, konnte mich aber für keine der beiden Auffassungen entscheiden, aber die Diskussion auch nicht weiterverfolgen, weil mich ausgerechnet in diesem Moment ein Freund abholen mußte, mit dem ich zu einer Party fuhr.

Die Musik im Souterrain des villenartigen Baus war laut, verhinderte aber dennoch nicht, daß ich Leute kennenlernte. Von dem Gastgeberpärchen, das ich nicht kannte, war nur Betti da, weil ihr Freund Erich nach einem Streit die Auszugs-Party verlassen hatte. Marcel, ein arbeitsloser Wirtschaftswissenschaftler, hatte dem Paar beim Auszug aus dem Souterrain vor 14 Tagen geholfen und erzählte mir, die beiden hätten sich bereits bei dieser mehrstündigen Aktion ununterbrochen in den Haaren gehabt.

Das zuvor veranstaltete Abendessen mit dem gesellschaftspolitischen Hintergrund hatte ich längst vergessen, als auf der Tanzfläche eine Prügelei begann, die Musik ausgedreht und das Deckenlicht eingeschaltet wurde. Zusammen mit anderen ging ich zwischen die vier Streithähne (nur Männer). Es war nicht schwer gewesen, das sich mit allerlei Kraftausdrücken beschimpfende Knäuel zu trennen, doch ehe ich mich versah, wurde ich selbst festgehalten – von einer Frau, die, wie ich später von ihr erfuhr, Karin hieß. Ich fand es angenehm, so schnell und unkompliziert körperlichen Kontakt mit einer mir unbekannten – übrigens hübschen – Frau zu bekommen, wies aber dennoch darauf hin, daß es sich wohl um ein Mißverständnis handeln müsse.

Der Auslöser für die Schlägerei war ein Streit um die Musikrichtung gewesen. Gastgeberin Betti behauptete, die einen, die unerwünschter Weise von der Hauptmieterin, die in dieser Kellerwohnung schon lange nicht mehr wohnte, mitgebracht worden seien, hätten unbedingt ältere Titel hören wollen. Ihre eigenen Gäste dagegen eher Zeitgenössisches. Ich wollte mich zwar nicht von meiner Vermutung abbringen lassen, daß hinter einer Schlägerei gewichtigere Gründe stecken müßten, aber meine Untersuchung geriet nun ins Stocken, denn die aggressiven Anhänger alter Songs hatten das Haus in Lichtenrade inzwischen verlassen, und die Fete kam nun wieder in Schwung.

Als ich ging, entschuldigte sich die Gastgeberin, die sich mit ihrem inziwschen wiedergekehrten Freund versöhnt hatte, für den Verlauf des Abends. Ihre Entschuldigung war überflüssig – aber woher sollte sie wissen, daß ich durch den Gewaltausbruch Karin kennengelernt hatte. Es war bald vier Uhr morgens, und ich war mir noch immer nicht sicher, ob die Gesellschaft nun brutaler geworden ist oder nicht. Ohnehin beschäftigte mich jetzt mehr die Frage, ob Frauen bei Männern neuerdings schneller zugreifen. Dirk Wildt