Der Fortschritt ist dünn Von Mathias Bröckers

Wie ich heute nacht in meinem Bett so auf und ab gehe, kommt auf einmal wieder die glasklare Erkenntnis, daß die Erde tatsächlich gut läuft, wie sie läuft. Perfekt geradezu. Deshalb war auch 1993 wieder einmal ein perfektes jahr.

Ja, aber was ist mit dem Gemetzel in Bosnien, den Kriegen und Krisen überall, den alten Faschisten und den neuen Nazis, den Hungertoten und den Erdbebenopfern, den brennenden Asylheimen und dem erfrorenen Obdachlosen von nebenan? Wie kann man da von perfekt sprechen? Nun ist die widerwärtige Aggressivität gegenüber Ausländern zum Beispiel kein Grund, das vergangene Jahr als perfekt zu loben – und doch hat der prügelnde und mordende Nazi-Mob sein Gutes.

Denn noch nie zuvor zeigte sich die deutsche Bevölkerung in Meinungsumfragen toleranter gegenüber Ausländern und Minderheiten als 1993. Es ist doch ein Lerneffekt, der ohne die brutalen Lektionen von Solingen und Mölln nicht eingetreten wäre. Gelernt auf die harte Tour – aber immerhin gelernt.

Ja, aber ist es nicht grauenhaft, daß dieser ganze braune Dreck wieder nach oben geschwemmt worden ist? Es kommt ja schließlich nichts hoch, was nicht auch vorher unten schon vorhanden wäre. Die neue Rechte kommt schließlich nicht aus der Südsee, sondern direktemang aus der kranken Seele des Volkes. Von Bewältigung des Faschismus kann natürlich keine Rede sein. Daß er jetzt wieder seine Fratze zeigt, ist hilfreich – denn nur so werden wir ihn los. Dasselbe gilt für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien, wird doch mit diesem grauenhaften Gemetzel die Idee des Nationalen, Völkischen, Rassischen für das Europa der Zukunft ein für allemal erledigt. Schon heute würde sich ein Genscher dreimal überlegen, ob es Sinn macht, ein obsoletes Gebilde wie Kroatien als Nation anzuerkennen. Gelernt auf die harte Tour. Aber gelernt.

Oder nehmen wir den wunderbaren Einsatz der Bundeswehr, die nach Somalia ausrückte, um ein nicht vorhandenes indisches Blauhelm-Kontingent zu versorgen. Perfekter als mit dieser potemkinschen Militärklamotte läßt sich die Überflüssigkeit deutscher Soldaten out of area nicht demonstrieren. Über 10.000 Zivilisten sind der UNO-„Hilfs“-Aktion in Somalia bisher zum Opfer gefallen – was den Verteidigungsminister nicht daran hindern wird, die Aktion bei der Rückkehr der deutschen Helden als vollen Erfolg zu preisen. Genialer kann man auf die Notwendigkeit einer Weltethik und einer Welt-Polizei (und die Abschaffung nationaler Armeen) nicht aufmerksam machen.

Und auch die Pfeifen in der Politik, von Björn „Ein Stück weit“- Engholm über Jürgen „Ich wollte Behinderten helfen“-Möllemann bis hin zu den reihenweise zurückgetretenen Amigos und Raffkes – absolut perfekt. Besser als mit den Lappalien, die 1993 als Rücktrittsgrund herhalten mußten, läßt sich die Armut und Inkompetenz der alten Politik nicht demonstrieren.

Daß zu Silvester dann auch noch die Oberpfeife Bill Clinton über ein lächerliches Sex-Gate zu stolpern droht, paßt als I-Tüpfelchen ins Bild – auch wenn wir in diesem Fall (Oralsex beim Seitensprung) die Ausrede schon kennen: „Sie war zwar dran, aber sie hat nicht geblasen.“ Der Fotschritt ist eben dünn. Aber gelernt wird.