■ Appell an Gemeinsinn als neue US-Reformbewegung
: Der dritte Weg?

Amitai Etzioni, 1929 in Deutschland geboren, ist Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der George Washington University in Washington D.C. Etzioni, bei Martin Buber in Jerusalem ausgebildet, war und ist auch als Berater im Weißen Haus tätig. Er gehört zu den Unterzeichnern eines 1992 publizierten Manifests („The Responsive Communitarian Platform: Rights and Responsibilities“), das sich der Stärkung der US-Zivilgesellschaft (besonders im Bereich von Erziehung und Familie) widmen will. Berührungspunkte mit der Konzeption normativ geprägter ziviler Verkehrsformen lassen sich am Beispiel der hiesigen, traditionell eher konservativ geprägten Werte- und Moraldebatte erkennen.

taz: Wird der Kommunitarismus zum neuen amerikanischen Exportschlager?

Amitai Etzioni: Sicherlich kann man eine amerikanische Bewegung, eine Plattform, nicht einfach in europäische Verhältnisse transplantieren. Wir verstehen uns als eine Art neue ökologische Bewegung. Wir wollen uns um die Gesellschaft kümmern, an die Gemeinschaft denken, die Schaden nimmt, ähnlich wie die Ökologen auch die Zerstörung der Natur nicht gedankenlos hinnehmen wollen. In Osteuropa sagte man früher den Leuten, der Staat würde alles regeln, heute soll es der Markt sein, der alle Antworten gibt, was ganz klar nicht der Fall ist, besonders nicht für das soziale Leben.

Was ist der Kommunitarismus? Ist er Religion, Philosophie, Ideologie, soziale Bewegung, ja, Gemütszustand?

Die Linken haben Themen wie Familie, Gemeinschaft, öffentliche Sicherheit tabuisiert und dem rechten Flügel überlassen. Unser Slogan ist: Die moral majority stellte die richtigen Fragen und bekam die falschen Antworten. Unserem Selbstverständnis nach sind wir aber weder links noch rechts, sondern ein dritter Weg, eine soziale Bewegung, um eine zivile Kultur zu stärken. Wenn wir an die Bürgerrechts- oder die Umweltbewegung denken, dann haben nur soziale Bewegungen Veränderungen großen Stils in der Gesellschaft bewirkt.

Für europäische Ohren ist es zutiefst ungewöhnlich, eine politische Reformbewegung präsentiert zu bekommen, die sagt: Wir wollen eine Politik in Gang bringen, die bestehende Skepsis gegenüber staatlichen Körperschaften geradezu zum Ausgangspunkt macht.

In vielen europäischen Ländern ist das Vertrauen in den Staat, das Sich-Verlassen auf den Staat total. Das ist auf Dauer vollkommen unrealistisch und auch nicht hilfreich für die zivile Gesellschaft. Ich bin nicht gegen den Wohlfahrtsstaat, aber seine Legitimität und seine Möglichkeiten sind erschöpft. Ich sehe nicht, daß unsere Ökonomien in der nächsten Zeit ein „deutsches Wirtschaftswunder“ erleben könnten. Fortschrittliche Kräfte haben in einer solchen Situation zwei Möglichkeiten: Sie können entweder den Tod tausender Einschnitte und Kürzungen sterben, oder man sagt: Es gibt 28 Dinge, die der Staat tun wird, und es gibt zwei, die von den Leuten übernommen werden. Ich rede von Leuten, die etwas füreinander tun, tun wollen. Ich will, ohne daß ich für alles Antworten habe, über solche Initiativen – etwa gegen Drogendealer etc. – reden. Wären wir in China, würden wir vehement für mehr individuelle Rechte eintreten. Im heutigen Amerika müssen wir mehr individuelle und soziale Verantwortung betonen. Soziale Gerechtigkeit in unserem Verständnis hat in ihrem Zentrum die Idee der Gegenseitigkeit.

Der Kommunitarismus, den ich meine, ist überhaupt nicht antiinstitutionell. Werte schweben nicht im Himmel, sie bedürfen institutioneller Verankerung, es muß zu einer Vermischung öffentlicher und privater Gruppen kommen. Wir sollten über neue Institutionen nachdenken. Ich finde zum Beispiel, daß Mütter und Väter die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten. Wir brauchen die Geschlechtergleichheit, und das wäre eine neue Einrichtung.

Für wie ernst halten Sie den Zustand der US-Gesellschaft, den Grad an Desintegration?

Wir sind in einer Situation, in der die Hälfte der Familien arbeiten, die andere nicht. Die Schulen sind zu zwei Dritteln in Schwierigkeiten. Einigen ethnischen Gruppen, etwa den Asiaten, geht es gut. Auch die Hispanics der zweiten Generation werden es schaffen, ihre Familien- und Nachbarschaftsstrukturen funktionieren. Die Hälfte der Gesellschaft jedoch ist außer Kontrolle. An einem ganz durchschnittlichen Tag gehen 135.000 Schüler mit geladenen Waffen in die Schulen, um sich zu schützen. Das ist Wahnsinn! Im Chicago Al Capones wurden bei einer Bandenauseinandersetzung 28 Leute erschossen. Danach fragte man sich monatelang, in welchem Zustand das Land eigentlich sei. Heute geschieht das täglich, und man liest nichts mehr. Wir sind vollkommen gefühllos gegenüber Gewalt geworden. Es gibt ganze Landesteile, in die sich die Polizei nicht mehr hineinwagt. Das ist wie im Mittelalter: Man hatte die Städte, und zwischen ihnen lag Niemandsland. Der moderne Staat garantierte erst, noch vor der Gerechtigkeit, die territoriale Sicherheit. Diese Garantie besteht in den USA nur noch bedingt.

Wenn der Grad an Desintegration schon so weit fortgeschritten ist, woher nehmen Sie eigentlich Ihren Optimismus?

Wenn Sie Hoffnung aufgeben... Amerikaner sind nicht immun gegen rechtsradikale Potentiale. Wir hatten David Duke, Pat Robertson, Ross Perot... Zu viele ziehen sich aus dem System zurück. Zwei Drittel der Amerikaner sind wütend, sie fühlen, daß das politische System nicht zu ihnen spricht, nicht mit ihnen kommuniziert. Man muß zumindest versuchen, die Leute für Engagement zu gewinnen, sonst warten sie auf den Nächstbesten, der sie mitzureißen vermag.

In Deutschland und innerhalb der europäischen Linken stößt der Kommunitarismus auf Bedenken. Man befürchtet, daß er Gemeinschaftskonzepte wiederbelebt, die wir mit guten historischen Gründen zur Vorgeschichte des europäischen Faschismus rechnen.

Wir sollten die Vergangenheit nicht vergessen, aber wir sollten auch nicht von ihr besessen sein. Die Gefahr des Autoritarismus existiert immer, in allen Gesellschaften. Wir müssen der Sprache der Wirklichkeit Rechnung tragen, und die sagt uns, daß sich die Menschen in bedrückend großer Zahl aus der Politik zurückziehen.

Was in Gottes Namen aber wäre das historische Subjekt, das den von Ihnen benannten dritten Weg beschreitet?

In den USA denkt man nicht in Klassenkategorien. Wir sprechen von einer Politik des Gemeinwohls, die prinzipiell alle BürgerInnen umfaßt. Wir schließen nur zwei Gruppen aus: den christlichen rechten Flügel, der uns für nicht religiös genug hält – und die extreme Linke, die, würde sie uns nicht attackieren, von mir angeheuert werden müßte! Dazwischen sehe ich niemanden, der ausgeschlossen wäre.

Sie wollen Zivilgesellschaft über einen Kulturkampf stärken. Aber was nützen Gefechte im Überbau, wenn ökonomische Prozesse der Basis die Autonomie des Zivilen unterspülen?

Die zivile Gesellschaft hat doch den Thatcherismus und Reaganomics besiegt! Die reinen Marktapologeten stehen heute bankrott da. Sie stellen keine moralischen Fragen, weswegen sie selbstzerstörerisch sind. Die Zivilgesellschaft kann gewinnen. Der Sieg Clintons hat dies doch gezeigt! Interview: Martin Bauer und

Andrea Seibel