Italien verliert den Arbeitsmarkt

Mehr als dreieinhalb Millionen Arbeitslose, eine weitere halbe Million Stellen in Gefahr / Erstmals fühlt sich das Land am Rande des Ruins  ■ Aus Rom Werner Raith

„Bisher war all das doch am Ende immer noch gut gelaufen“, wundert und ängstigt sich Romolo Proietti, Angestellter bei dem eben privatisierten Elektrizitätskonzern. Sein Distriktsleiter kündigte die „mögliche Schließung einer Dependence und damit die vorläufige Entlassung“ an. Der vierzigjährige Proietti, Vater dreier Kinder, fiel aus allen Wolken. Bisher hatte er sich für unkündbar gehalten, war er doch wie knapp eineinhalb Millionen seiner Kollegen bei einem Staatskonzern beschäftigt.

Wie Proietti bangen derzeit mehr als 200.000 Angestelle und Arbeiter gerade privatisierter Betriebe der Zukunft entgegen: Für sie wurde per Dekret die Unkündbarkeit aufgehoben. Sie verstärken damit das Heer der bereits vorher schon von Privatkonzernen und mittelständischen Betrieben auf mögliche Entlassung vorbereiteten 300.000 Frauen und Männer. Der Staat, der sich durch die Privatisierung zwar eine ansehnliche Zahl von Gehaltszahlungen vom Hals geschaffen hat, steht damit vor einer noch größeren Herausforderung als vorher: die Entlassenen werden nach italienischem Gesetz zuerst in die „Cassa integrazione“ gesteckt, eine Art Arbeitslosengeldzahlung, und danach wohl in vorzeitige Pension geschickt. Damit muß der Staat nun für Menschen aufkommen, die nicht einmal mehr produzieren, während die Industrie ihre Rationalisierungen ohne große Mühe über die Bühne bringt. Der Staatshaushalt wird nahezu jede Woche korrigiert.

Die Tageszeitung Il manifesto veröffentlichte Ende Oktober eine Landkarte, auf der die Betriebe eingezeichnet sind, die in nächster Zeit Entlassungen im großen Stil durchführen wollen – bis hin zu zehntausend Personen und flächendeckend, wie sich zeigt. Von Fiat, Iveco (Lastwagen) über Ferrero (Nahrungsmittel) Alfa und IBM in Mailand bis zu den Baufirmen Costanzo und dem Erdölunternehmen Petrolchimico auf Sizilien nimmt sich die Firmenkarte geradezu wie das Who's who der italienischen Industrie aus. Keiner der Großkonzerne, aber auch keiner der mittelständischen Betriebe ist ausgeklammert, und Abhilfe ist nirgendwo in Sicht.

Trotz einiger angeblich irgendwo aufgetauchter Silberstreifen am Horizont der Wirtschaftsentwicklung – der neue Notenbankpräsident hat davon gemurmelt – bremsen unterschiedslos alle Wirtschaftskapitäne und auch die Fachminister jeglichen Enthusiasmus ab: „Selbst wenn wir 1994 und 1995 wieder auf Zuwachsraten von fünf oder gar acht Prozent kämen“, erklärte Fiat-Generalmanager Romiti, „würde das allenfalls die weitere Erosion verlangsamen, an eine nachhaltige Erholung des Arbeitsmarktes ist damit aber nicht zu denken“.

Weit von einer Diskussion um den Wirtschaftsstandort wie in Deutschland entfernt, sehen die Italiener ihr Desaster mehr und mehr als interne Angelegenheit an: Zwar spielt die Wirtschaftskrise in ganz Europa auch eine Rolle, doch Italien wird sich erstmals klar, daß ein Großteil der Perspektivlosigkeit hausgemacht ist. Wahrscheinlich ist Italien auch das erste Land, das seine Probleme im eigenen Domizil zu lösen versucht und nicht über Schuldverschiebungen nach Brüssel, Tokio oder auf böse Mächte im Untergrund.

Als Hauptmalaise haben die Italiener ihre miesen, mitunter gar völlig fehlenden öffentlichen Dienste erkannt – weder das Gesundheitswesen bietet noch irgendwelche Leistungen, noch ist der öffentliche Transport vorzeigbar. Die staatlichen Behörden, vom Finanz- bis zum Katasteramt, arbeiten mit einer Langsamkeit, die im Computerzeitalter geradezu mittelalterlich anmutet. Die Beamten und öffentlichen Angestellten fühlen sich erstmals selbst „unfähig, völlig unfähig, selbst nur dem kleinsten deutschen, französischen, schweizer Staatsdiener das Wasser zu reichen“, jammerte in der Fernsehsendung „Rosa e nero“ ein Dienststellenleiter.

Derlei hatte bislang eigentlich niemanden sonderlich gejuckt: „Wir haben immer gewußt, es gibt Auswege für alles, am besten unter Einsatz der uns nicht zu Unrecht nachgesagten Schlitzohrigkeit“, sagt Proietti: Wer bürokratrische Probleme hatte, suchte einen Freund auf, der den Dienststellenleiter kannte. Industriefirmen verschafften sich auch mit minderen Waren Absatzmärkte durch Schmiergeldzahlungen im In- und Ausland, selbst die diversen Finanzminister zeigten ansehnliche Phantasie im Kaschieren ihrer Defizite.

Mittlerweile aber klappt all das nicht mehr so wie früher. Wer in Pension ging, wußte schon immer, daß er auf die erste Zahlung bis zu drei Jahre warten mußte – nur, jetzt hat er aufgrund des Lohnverfalls und der steigenden Preise schon all seine Rücklagen aufgebraucht. Er kann also nicht mehr so lange warten. Wer eine Baugenehmigung brauchte, wußte, daß sich das bis zu acht Jahre hinziehen konnte, daher wurde überall schwarz gebaut – nur, das Land ist dadurch so zersiedelt und infrastrukturell zerstört worden, daß der Staat nun mitleidslos Schwarzbauten wieder abreißen läßt, weil sonst ein Desaster droht. Wer ins Krankenhaus mußte, schmierte den Chefarzt, weil er bei Beachtung der Warteliste voraussichtlich längst tot war, wenn die Operationsreihe an ihm war – nur, zum Schmieren hat niemand mehr Geld. Außerdem ist die Überlastung der Krankenhäuser durch die verwaltungs- und defektbedingte Schließung ganzer Hospitäler so massiv geworden, daß Ärzte auch bei Angebot guter „mazzette“, Schmiergeldbündel, abwinken.

Der Staat, der hier zunächst gefordert ist, hat aber kein Geld zur Neustrukturierung: Er ist, um wenigstens die Europamitgliedschaft Italiens aufrechtzuerhalten, mit der Einlösung der Gemeinschaftsvorgaben beim Haushalt beschäftigt. Das heißt: Er privatisiert, baut selbst weitere Stellen ab, kürzt Sozialleistungen. Das macht zwar auf das Ausland einigen Eindruck, verstärkt aber inwendig die Störungen gewaltig. Vor zwei Monaten sind mehr als zwölf Millionen Menschen – vom Bank- über den Transport- und den Schulsektor bis zur Großindustrie – für einige Stunden in den Ausstand getreten. Ministerpräsident Ciampi ließ eiligst umgerechnet eineinhalb Milliarden Mark für Sozialleistungen bereitstellen. Die Gewerkschaften und die Rentner hat das jedoch nicht sonderlich beeindruckt.

Dennoch hat wohl nur Ciampi selbst eine gewisse Chance, auf längere Frist Umgestaltungen herbeizuführen. Gelingen ihm einige seiner bisher angepackten kostenneutralen Modifikationen des staatlichen Systems – von der bereits frühzeitig angesetzten Pensionsberechnung bis zum teilprivatisierten Gesundheitswesen –, könnten immer mehr Italiener das nötige Vertrauen finden, auch ihre bisher hartnäckig verteidigte Besitzstandwahrung aufzugeben und bei einer Reform mitzumachen. „Sicher ist“, sagt Romolo Proietti nachdenklich, „daß wir uns von einer Idee verabschieden müssen – alle künftigen Krisen so wie bisher mit Schlitzohrigkeit und Beziehungen zu überwinden.“ Und so hat er, für alle Fälle, schon mal einen Gewerbeschein beantrat. Wird er wirklich entlassen, will er eine Elektroinstallationsfirma aufmachen.