Lückenlos abgeschirmt von „sicheren Drittstaaten“

■ Bis heute gibt es keine verbindlichen Kriterien zur Definition dessen, was überhaupt ein „sicherer Drittstaat“ ist – Resultat: Jedes Land schiebt Asylsuchende dem Nachbarn zu

Die Richterschelte war unüberhörbar schroff. Die Bundesregierung werde, so polterte das Bundesinnenministerium, dem Bundesverfassungsgericht „ihre deutlich abweichende Meinung“ mitteilen. Der Unmut der Politiker richtete sich gegen zwei Entscheidungen der Karlsruher Richter, die am Kern des neuen Asylrechts rütteln, an der sogenannten „Drittstaatenregelung“. In unterschiedlichen Beschlüssen hatte das höchste Gericht der Nation die Rückschiebung von Flüchtlingen gestoppt, die über Griechenland eingereist waren. Der vermeintlich sichere Drittstaat Griechenland, so urteilte Karlsruhe, ist es für Asylsuchende nicht. Denn die Athener Regierung schiebt die Flüchtlinge ihrerseits in das nächste Drittland ab, in die Türkei etwa, wo es kein geordnetes Asylverfahren gibt.

Die Bonner Politiker waren nicht ohne Grund alarmiert. Denn was die Richter bei Griechenland monierten, ist auch in anderen „sicheren Drittstaaten“ gängige Praxis. Ob diese Praxis mit der deutschen Verfassung vereinbar ist, werden die Karlsruher Richter voraussichtlich Anfang des Jahres in einem Hauptsacheverfahren endgültig entscheiden. Derzeit fordert das Gericht unter hohem Zeitdruck Stellungnahmen von Experten dazu ein. Findet die umstrittene Drittstaatenregelung vor den Richtern keine Gnade, dann kippt das bisher effektivste Abschottungsinstrument, das sich Bonn mit der Asylrechtsänderung geschaffen hat.

Das Problem der „sicheren Drittstaaten“ beginnt schon bei der Definition. Zwar ist es in fast allen europäischen Ländern gängige Praxis, Flüchtlinge mit der Begründung abzuweisen, sie seien vor ihrer Einreise bereits in einem anderen, einem Drittland vor Verfolgung sicher gewesen. Doch bis heute gibt es keine verbindlichen Kriterien zur Bestimmung dessen, was überhaupt ein sicherer Drittstaat ist. Die Europäische Gemeinschaft konnte sich bisher weder auf einheitliche Standards noch auf einen Staatenkatalog einigen. Das Resultat ist das, was das UNO- Flüchtlingshochkommissariat als „Dominoeffekt“ bezeichnet: Jedes Land schiebt die Asylsuchenden in den jeweils benachbarten Drittstaat weiter. Selbst wenn die Flüchtlinge triftige Asylgründe vorweisen können, macht allein der Fluchtweg sie zum Spielball von Kettenabschiebungen. Und die enden irgendwann im Verfolgerland. Solche Kettenabschiebungen aber, urteilt der Vertreter des Flüchtlingskommissars in Deutschland, „verletzen die Genfer Flüchtlingskonvention und bilden eine potentielle Gefahr für die Funktionsfähigkeit des internationalen Asylsystems“.

Politisch Verfolgte genießen Asyl – in ihrem Verfolgerland

Die Bundesrepublik ist nach der neuen Asylrechtsregelung Weltmeisterin in diesem Dominospiel. Lückenlos abgeschirmt von lauter „sicheren Drittstaaten“ wie kaum ein anderes Land, kann sie jeden Flüchtling zurückweisen, der nicht direkt aus dem Verfolgerstaat einschwebt. Die Bundesrepublik ist jedoch gleichzeitig auch das Musterbeispiel für die Fragwürdigkeit der Drittstaatenregelung.

Da ist der „sichere Drittstaat“ im Osten, der Nachbar Polen. Der hat sich mit der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention zwar die Eintrittskarte in die Gemeinschaft der verfolgungsfreien Länder verschafft. Doch Polen hat nach wie vor nur ein mangelhaft funktionierendes Asylverfahren. Dennoch hat sich die Regierung in Warschau gegenüber der Bundesrepublik schriftlich verpflichtet, sämtliche über Polen nach Deutschland reisenden Flüchtlinge zurückzunehmen. Nur: das Rücknahmeland Polen hat seinerseits Rücknahmeabkommen mit anderen Staaten. Dazu gehören Länder wie Rumänien, Bulgarien, Slowenien und die Ukraine, in denen das Wort Asyl nach wie vor ein Fremdwort ist.

Da ist als zweiter Puffer der „sichere Drittstaat“ Tschechische Republik. Auch die CR hat inzwischen die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, aber dorthin zurückgeschobene Flüchtlinge haben kaum eine Chance auf ein Asylverfahren. Das tschechische Asylrecht sieht vor, daß Flüchtlinge innerhalb von 48 Stunden einen entsprechenden Antrag stellen müssen. Flüchtlinge, die an der bayerischen Grenze ins Transitland Tschechien zurückgeschickt werden, haben diese Frist meist längst verpaßt. Auch die Regierung in Prag schiebt die Flüchtlinge, die der deutsche Grenzschutz retour schickt, postwendend ein Haus weiter.

Da ist der „sichere Drittstaat“ Österreich. Auf dem Papier verspricht er ein funktionierendes Asylverfahren, im praktischen Einzelfall, so bilanziert die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, werden die Gesuche oft jedoch ohne inhaltliche Prüfung aus rein formalen Gründen abgelehnt. Auch Österreich schiebt in Länder weiter, die beim besten Willen nicht als sicher bezeichnet werden können. So wurden beispielsweise Kosovo-Albaner, die über Kroatien und Slowenien einreisten, ins „sichere Drittland“ Kroatien zurückgeschickt.

Zu welcher Perversion des Asylrechts die Drittstaatenregelung führt, verriet Innenminister Kanther kurz vor Weihnachten. Gerade hatte sich auch die Schweiz in einem Abkommen verpflichtet, durch ihr Land gereiste Asylbewerber vom Bundesgrenzschutz zurückzunehmen, da dachte Minister Kanther sein Traumziel laut vor sich hin: Rücknahmevereinbarungen mit sämtlichen Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden. Politisch Verfolgte, so müßte dann wohl der neugeschaffene Artikel 16 des Grundgesetzes heißen, genießen Asyl – in ihrem Verfolgerland. Vera Gaserow