Die erste Etappe im Verteilungskampf

1993 war das Jahr der „Asyldebatte“. Die Kohl-Regierung feierte die Demontage des Grundgesetzes als Normalisierung im europäischen Kontext, die SPD unternahm keinen Versuch, der Angst vor der „Asylantenflut“ Rationaleres entgegenzusetzen.

Am 26.Mai dieses Jahres verabschiedete der Bundestag mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit die Änderung des Grundgesetzartikels 16. Der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ gilt seitdem nur noch unter vielfachem Vorbehalt. Offiziell war diese Grundrechtsbereinigung ein Akt der Normalisierung im europäischen Kontext. Bedingt durch das vom Grundgesetz geschützte, individuell einklagbare Recht auf Asyl, so die Regierungsversion, würden die „Flüchtlingsströme europaweit in die BRD gelenkt“ – ein „Ansturm“, unter dem die Kassen der Kommunen und die Toleranz der Deutschen zusammenbrächen. Folgerichtig feierte eine ganz große Koalition aus Politik und veröffentlichter Meinung die Demontage des Grundgesetzes als Angebot zur Wiederherstellung des freundlichen Miteinanders, als gelungenen Angriff auf den Rechtsradikalismus. Die Mordbrenner, die drei Tage später in Solingen zuschlugen, hatten die Botschaft offenbar nicht verstanden. Verständlich wurde durch dieses Argument jedoch, daß es im Kern der ganzen Debatte gar nicht um Asylsuchende, Wirtschafts-, Armuts- oder sonstige Flüchtlinge, nicht um die Zukunft der Einwanderer ging, sondern um uns: um den Zustand der Republik. Im Rückblick wissen wir, daß die „Asyldebatte“ nur die erste Runde in einem innerdeutschen Verteilungskampf war – dessen zweite Etappe gegenwärtig stattfindet – und diesmal, ohne Umwege über Dritte, den direkten Wohlstandsverlust durch den weiträumigen Abbau ganzer Industriebranchen zum Gegenstand hat.

„Wenn an den Futtertrögen die Messer gezückt werden – das ist ein uraltes Gesetz –, kommen die Fremden wie gerufen, um der Wut und Angst eine Zielscheibe zu bieten“, schrieb der Soziologe Ulrich Beck im Herbst 1992 in einem der klarsichtigsten Essays der gesamten Debatte. „Weil die Deutschen sich wechselseitig an die Gurgel wollen, hetzen sie die Fremden und entdecken mit unverschämter Lust, daß Feindbilder entlasten, ermächtigen, Gemeinsamkeit stiften.“ Das, so Beck, war der erste Schritt, bei dem zusammenwuchs, was zusammengehört. Verängstigte, Frustrierte und zutiefst Enttäuschte aus Ost und West fanden in der Hatz gegen Ausländer ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Die herrschende Politik hat diesen Trend forciert und instrumentalisiert. „Die einen werfen Brandsätze, die anderen sprechen Brandsätze“, schrieb Beck, Monate vor Solingen. Das hatte System und findet auch in der Rückschau keine Entlastung. Die große Lüge der Bundesregierung im Wahlkampf 1990, nach der im Osten schlagartig der Wohlstand ausbrechen würde, ohne daß es den Westen etwas koste, schuf die Projektionsfläche, auf der dann als Sündenböcke die „Asylanten“ erschienen.

Durchgesetzt werden konnte diese Politik, weil auch die SPD keinen ernsthaften Versuch unternahm, der geschürten Hysterie einen rationalen Diskurs entgegenzusetzen. Bereits im Wahlkampf 1990 hatte die Partei ihrem Kanzlerkandidaten übelgenommen, daß er statt von blühenden Landschaften von den Kosten der Einheit sprach. Die Mehrheit der SPD wollte sich die Einheitseuphorie nicht vermiesen lassen und ließ Lafontaine, der als einziger Spitzenpolitiker auf eine realistische Bestandsaufnahme drängte, im Regen stehen. Diese Linie änderte sich auch nicht, als Engholm Parteivorsitzender wurde.

Im Gegenteil. Engholm ließ die Position Vogels, der den Artikel 16 des Grundgesetzes noch als geschichtliche Verpflichtung begriff, fallen, ohne dem damaligen CDU- Generalsekretär Volker Rühe eine rationale Alternative entgegenzusetzen. Statt nüchtern zu fragen, wieviel Millionen wir letztlich für die Aufnahme von Flüchtlingen aufzubringen bereit sind, ließ er sich von den „Das Boot ist voll“- Metaphern der Konservativen regelrecht überfluten. In schierer Panik kamen so die Petersberger Beschlüsse der SPD-Spitze zustande, der eigentliche Dammbruch in der Auseinandersetzung um die Änderung des Grundgesetzes. Wie wenig in der SPD an einer Alternative zur konservativen Ausgrenzungspolitik gearbeitet wurde, zeigten dann die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition um den Text der Grundgesetzänderung und die entsprechenden Begleitgesetze. Inoffiziell geben hochrangige Sozialdemokraten heute zu, daß sie im Frühjahr 1993 sowohl ein Einwanderungsgesetz als auch eine Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts hätten durchsetzen können – wenn sie nur gewollt hätten und darauf vorbereitet gewesen wären.

Übrig geblieben ist ein verspätet eingebrachter Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, durch den unter anderem die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht werden soll. Der Entwurf dümpelt nun im Innen- und Rechtsausschuß des Bundestages vor sich hin und dürfte in dieser Legislaturperiode keine Chance mehr haben. Eine politische Meisterleistung, wenn man bedenkt, daß nach Solingen selbst Kohl die doppelte Staatsbürgerschaft für einen begrenzten Zeitraum schon in Aussicht gestellt hatte und zusätzlich durch eine der erfolgreichsten Unterschriftenkampagnen eine Million UnterzeichnerInnen der Forderung weiteren Nachdruck verliehen.

Seit der Veränderung des Artikel 16 werden Flüchtlinge abgewiesen, bleiben ImmigrantInnen arbeitslos und werden wohl demnächst zu den ersten gehören, denen Arbeitslosen- und Sozialhilfe rigoros zusammengestrichen werden. Zwar gibt es immer wieder genügend Stimmen, die sich durch Lichterketten, Unterschriften oder die private Aufnahme von Flüchtlingen von einer solchen Politik distanzieren. Doch in Bonn finden sie kein Gehör. Im Wahljahr geht es schließlich um Arbeitsplätze – da ist sowieso klar, daß EinwanderInnen und Flüchtlinge zur Zeit nicht gebraucht werden. Deutsche, die dennoch ohne Job bleiben, dürfen sich dann an der Debatte um die Rekonstruktion einer nationalen Identität aufwärmen – ein zuweilen tödlicher Ersatz für die bisherige Sinnstiftung durch Konsum. Jürgen Gottschlich