■ tageszeitungs-Roman, Teil II
: Stille Nächte auf Tahiti – von Albrecht Lampe

Auf Tahiti gab es keine Sparkassenfiliale, so viel war sicher. Wahrscheinlich war Schwester Gabriele auch nicht da. Frau Horstkotte lebte allein, er wußte es aus ihrer Personalakte. Schwester Gabriele hatte er später mit etwas gezwungener Heiterkeit gefragt, wo sie denn ihr Konto habe, er würde ihr gern und immer persönlich die Kontobelege überreichen, auch an den dazugehörenden Briefumschlägen solle es nicht mangeln. Sie hatte ihn lange mit ihren graugrünen Augen angesehen gesagt: „Aber Herr Schierhold, ich bin doch aus Bad Harzburg!“ Der Satz hatte in ihm eine kleine oberflächlich vernarbte Wund hinterlassen. Ob Frau Horstkotte mit ihm nach Tahiti führe?

Nach seinem Krankenhausaufenthalt hatte er ihr einmal einen Reiseprospekt auf den Schreibtisch gelegt, wie unabsichtlich, natürlich. Frau Horstkotte begann unvermittelt zu schwärmen, die Farben des Himmels, des Meeres, der Strände riefen in ihr offenbar Regungen hervor, für deren Anlaß die Umgebung ihres Campingstellplatzes nicht auszureichen schien. Frau Horstkotte floh an freien Tagen dorthin, verfolgt von ihrem Vater und seiner unersättlichen Bastlerleidenschaft. Ihre Mutter war vor einigen Jahren gestorben, seitdem schien Schierhold ihr angenehmes Gesicht etwas umwölkt. Erwin Schierhold hatte nicht gewußt, daß er jemals „umwölkt“ denken würde. Wenn er sie ansah, beschlich ihn dieses Wort, er rückte dann mit intuitiver Geste seine großzügig gemusterte Krawatte zurecht.

Der Sand wurde immer heißer, die Sonne stand jetzt im Zenit. Mittägliche Trägheit bemächtigte sich des Filialleiters, er drehte sich seufzend auf den Bauch und schlief ein. Tahiti könnte wirklich überall sein, dachte er nochmal, mit einem Anflug von Großzügigkeit in seiner sommerlich verklärten Seele.

Am Montagmorgen ließ Frau Horstkotte ihren Vater telefonieren: Seine Tochter könne heute nicht kommen, sie entschuldigt sich mit Herzschmerzen. Im Laufe des Vormittags ginge sie zum Arzt.

Der Vater legte gleich wieder auf, ohne ängstlich-interessierte Nachfragen abzuwarten. Eben hatte ihn seine Tochter angerufen, sie klang nicht gerade krank, wohl aber erschien dem Vater ihre Stimme etwas gepreßt. Da ihm die Funktionstüchtigkeit von Klappdübeln in Rigipswänden wichtiger war, als die berufliche Pflichterfüllung seiner Tochter, dachte er auch nicht weiter nach. Er wandte sich seiner Bohrmaschine zu, die er als Werbegeschenk erhalten hatte, weil er einen Nachbarn zum Bezug einer mäßig interessanten Tageszeitung genötigt hatte.

Frau Horstkotte hatte ihr grünes Jägerkostüm angezogen. Sie saß zu diesem Zeitpunkt in einem Gartenlokal an einem Stichkanal der Hamme unweit Worpswede. Sie nestelte nervös an ihrer Handtasche. In ihr tobte die wilde Verzweiflung all derer, die das Glück, diesen rauschhaften Ausnahmezustand, ganz nahe wähnen und nicht daran zu glauben wagen, daß dieses so sein könnte, vor allem sein dürfte.

Frau Meier senior, die Wirtin, bediente sie mit Kaffee und Wickelkuchen. Ihre silbernen Löckchen leuchteten so hingebungsvoll vertrauenerweckend, daß Frau Horstkotte sich ihr fast eröffnet hätte. „Na, junge Frau“ – landesüblich ersetzte sie das j durch ein weiches und stimmhaftes dsch – „nun machen sie man nicht so ein Gesicht, er wird bestimmt gleich kommen!“ Frau Meier legte ihr freundliches Mädchengesicht in tausend kleine Falten und strahlte wie eine Wiese voller Narzissen.

Frau Horstkotte ließ alle Zurückhaltung fallen und begann zu weinen. Zu heftig lastete die Erwartung auf ihrer neununddreißigjährigen Seele, die so ungeübt war im Spiel erfüllter Hingabe.

„Na, na, min Deern“, Frau Meier setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. „Die Kerls sind es meist nicht wert, daß man um sie weint, aber manchmal muß es doch wohl sein.“ Frau Horstkotte schluchzte lang und tief. Dann wischte sie sich die Tränen ab: „Ich glaube, er wollte doch nur an mein Erspartes, und ich habe ihm vertraut. Kennenlernen soll er mich, jawohl, kennenlernen!“

In diesem Augenblick rollte ein grauer Opel Ascona auf die Wiese vor dem Gartenlokal. Es entstieg ihm ein stattlicher Mittvierziger mit glattem schwarzen Haar, das sich leicht über dem grünen Hemdkragen kräuselte. Die Nelke im Knopfloch seines etwas abgewirtschaftet wirkenden Anzuges leuchtete, mit wiegendem Schritt näherte er sich Frau Horstkotte. „Guten Morgen, Ruth, ich darf Sie doch Ruth nennen?“ Sein schiefes Lächeln ließ auch nichts Gutes ahnen. „Äußeres Kennzeichen rosa Nelke“, lachte er meckernd und ließ sich neben ihr auf den Stuhl fallen. Frau Meier verließ das ungleich wirkende Paar und schüttelte besorgt den Kopf. „Darf ich mich vorstellen, Beckmann mein Name, Alexander D. Beckmann, Hoch- und Tiefbau.“ Ruth Horstkotte rückte ein wenig von ihm ab und verachtete. Sie verachtete wie auf Anordnung. Da sie in ihrem Leben bisher fast alles auf Anordnung getan hatte, kam ihre Verachtung so schnell und präzise wie ihre gern gesehenen Barauszahlungen aus dem Bestand der Sparkassenfiliale Am Dobben.

Ruth Horstkotte warf Beckmann einen kurzen Blick zu, bereute die Briefmarke auf ihrem Antwortschreiben zur Suchanzeige und erhob sich...

Fortsetzung folgt