„Wir sind ein Volk“

Die rivalisierenden Schachverbände PCA und FIDE spielen ihre nächsten Weltmeisterschaften aus  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Zustände wie im Boxsport herrschen derzeit in der Welt des Schach. Wenn es irgendein hiebfester Faustkämpfer nicht schafft, bei einem Verband Weltmeister zu werden, geht er einfach zu einem anderen und versucht es dort. So ähnlich handhaben es derzeit auch die besten Schachspieler der Welt, denen sich durch die Gründung der Professional Chess Association (PCA) durch Weltmeister Garri Kasparow und seinen letzten gescheiterten Herausforderer Nigel Short ungeahnte Pfründe aufgetan haben.

Zunächst wollte die Crème der begnadeten Figurenverschieber nichts von der PCA wissen, weil sie die Organisation lediglich für eine neue Marotte des ungeliebten, selbstherrlichen Kasparow hielten. Seit es diesem aber tatsächlich gelungen ist, spendierfreudige Sponsoren zu finden und für das in Groningen bis zum 30. Dezember laufende WM-Qualifikationsturnier stolze 400.000 Mark Preisgeld auszusetzen, rennen sie dem Champion die Bude ein. 54 Großmeister sind in Groningen dabei, darunter illustre Namen wie Viswanathan Anand (Indien), Wladimir Kramnik (Rußland), Gata Kamsky (USA), Michael Adams (England) und Leonid Judasin (Israel), die ungarischen Schwestern Judit und Zsusa Polgar.

Nur Anatoli Karpow, der sich Ende letzten Jahres durch seinen Sieg gegen den Niederländer Jan Timman zum Pseudo-Weltmeister des Weltverbandes FIDE aufschwang, nachdem dieser die Dissidenten Kasparow und Short aus der Weltrangliste gestrichen hatte, bewahrte einen Rest von Anstand und hielt sich, ebenso wie Timman, von Groningen fern. Andere wie Anand, Kamsky, Kramnik, Adams oder Judasin dagegen schöpfen aus dem vollen und werden auch in Wijk aan Zee dabei sein, wenn dort vom 16. bis 30.Januar sechs Teilnehmer der nächsten Runde der FIDE-WM ermittelt werden.

In Groningen qualifizieren sich sieben Spieler für das Viertelfinale, zu denen sich Nigel Short gesellen wird, Champion Kasparow muß erst 1995 wieder ans Brett, wenn er seinen Titel gegen den Sieger der PCA-Qualifikation verteidigt. Erheblich eher greift Karpow ins Geschehen ein, nach einer Reglementsänderung hat er bereits im Halbfinale anzutreten. Der Kampf um die Krone soll auch bei der FIDE 1995 über die Bühne gehen.

Das Schisma im Schach setzt sich also munter fort, die Vorteile liegen derzeit aber eindeutig bei der PCA, die mit Hilfe eines amerikanischen Chip-Herstellers eine lukrative Serie von zehn Veranstaltungen mit den 16 weltbesten Spielern plant. Jedes Turnier ist mit 160.000 Dollar dotiert. Für 1994 sind Turniere in Moskau, London, New York und Paris vorgesehen. „Bei der PCA gibt es viel mehr zu verdienen als bei der FIDE“, stellt Michael Adams lakonisch fest. FIDE-Präsident Florencio Campomanes, der sich mit seinem Lieblingsfeind Kasparow endgültig in der Frage des Austragungsortes der letzten WM entzweite, hat seine anfängliche Position der Stärke eingebüßt.

Doch auch die PCA scheint nicht ganz glücklich mit der Situation und signalisierte in Groningen Versöhnungsbereitschaft. Vor dem Saal hängt ein Plakat mit dem FIDE-Emblem und der Aufschrift „Gens una sumus“ (Wir sind ein Volk). Das einseitig-langweilige Match Kasparow – Short letztes Jahr in London hat gezeigt, daß die größte Attraktivität nach wie vor ein Duell Karpow – Kasparow hätte. Jedenfalls solange, bis Viswanathan Anand, seit langem als Spieler der Zukunft gefeiert, die Beständigkeit erlangt, die ein echter Herausforderer des echten Champions braucht, oder bis die 16jährige Judit Polgar, die ebenso gute Ergebnisse hat wie Bobby Fischer im gleichen Alter, ihre Vorschußlorbeeren rechtfertigt.

In Groningen liegt Anand drei Runden vor Schluß an der Spitze, und es ist keineswegs ausgeschlossen, daß der durchaus pikante Fall eintritt, daß sich der Inder sowohl für das Finale der PCA-WM als auch für das der FIDE-WM qualifiziert. Sollten die Streithähne bis dahin keine Einigung erzielt haben, kann man jetzt schon darauf wetten, daß die beiden WM- Kämpfe gleichzeitig stattfinden werden. Für weitere Unterhaltung ist gesorgt.