Jazz Rebel, Anti-Marsalis

Lester Bowie war 1993 plötzlich wieder ein Star. Mit dem „Rebellen des Jahres“ sprach  ■ Christian Broecking

Die konservative Kulturkritik, auch die schwarze, sieht ihn als Clown, als Verräter an der Tradition des Jazz: Lester Bowie, Trompeter, Hipster, Legende. Für den afroamerikanischen Kritiker Stanley Crouch etwa endet die Tradition (genau wie für seinen Zögling, den Trompeter Wynton Marsalis) mit John Coltrane und Thelonious Monk – für Bowie dagegen hat sie gerade erst begonnen. Nicht nur deshalb wurde er in diesem Jahr von der amerikanischen Musikpresse zum „Jazz-Rebellen“ emporgeschrieben. Richtig daran ist immerhin, daß Bowie im aktuellen Jazz das risikofreudige Gegenmodell zum handwerklichen, kulturpflegerischen Ansatz von Wynton Marsalis verkörpert. Als Mitglied und einstiger Präsident des mittlerweile 28jährigen Chicagoer Musikerkollektivs AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians) und als Mitbegründer des 1968 daraus hervorgegangenen Art Ensemble of Chicago prägte Bowie den Begriff der „Great Black Music“. Musik als Synthese aller Musikformen, Kunst als Lebenshaltung, Kreativität und Selbstverwirklichung – so die kollektiven Formeln. „Unsere Musik kann das Leben des Hörers zum Guten wenden“, so der hochgehängte Anspruch. Bowies gebügelter Weißkittel, den er bei den Auftritten mit dem Art Ensemble (oder auch der All-Star Formation Leaders, seiner Brass Fantasy oder seines New York Organ Ensembles) zu tragen pflegt, symbolisiert die Bühne als Labor und die Musik als Experiment. „Alle Amerikaner werden dazu erzogen, Dummköpfe zu sein“, lautet seine vielzitierte These über die kulturelle Bedingtheit seiner Mitmenschen und das Geschäft der konservativen Kulturkritik. Lester Bowie lebt in Clinton Hill im New Yorker Stadtteil Brooklyn.

taz: Mr. Bowie, wie fühlen Sie sich als Rebell des Jahres?

Lester Bowie: Ich bin Großvater. Ich bin 52 Jahre alt. Das ist doch wohl kaum noch der rechte Jahrgang für Rebellen, oder? Nein, ich würde sagen, daß wir eher Traditionalisten sind. Traditionalisten in dem Sinne, daß Rebellion die eigentliche Tradition des Jazz ist. Hingegen ist die Revolution eine Sache für junge Leute: Das wäre eher Wyntons Job, um's mal so zu sagen.

Und das ist in absehbarer Zeit von Wynton Marsalis wohl kaum zu erwarten. Die Frage drängt sich auf, ob der Konservativismus im gegenwärtigen amerikanischen Mainstream-Jazz doch mehr als nur ein Trend ist.

Es ist mehr als nur ein Trend, denn hier geht es vor allem um Marketing. Das ist in meinen Augen das Folgenschwerste der Entwicklung in den letzten Jahren: Der Run auf das bessere Marketingkonzept gefährdet die Musik. Wynton ist ein solcher Marketing- Clou von CBS Records, er wurde designt, ein bestimmtes Publikum anzusprechen und dem Jazz-Markt neue Käuferschichten zu erschließen – um Musik geht es dabei überhaupt nicht. Das Problem ist, daß junge Musiker, die sich eigentlich um die musikalische Weiterentwicklung des Jazz kümmern sollten – denn das hieße die Tradition zu pflegen –, sich heute wie Museumsangestellte aufführen. Sicher haben die Plattenfirmen immer eine große Rolle in der Jazz-Geschichte gespielt, aber nie gelang es ihnen, den Jazz und seine Musiker zu kontrollieren. Das aber scheint mir heute der Fall zu sein: Die Majors kontrollieren die Richtung der Musik, und die jungen Musiker sind ihnen offenbar völlig auf den Leim gegangen.

Wollen Sie etwa behaupten, daß die New Yorker „Jazz at Lincoln Center“-Reihe und deren Protagonisten, Wynton Marsalis und Stanley Crouch, von den Plattenfirmen kontrolliert sind?

Es geht hier nicht um direkte Kontrolle, die auf Korruption basiert. Viel schlimmer! Der amerikanische Gedanken-Mainstream hat den Jazz erfaßt, infiziert und paralysiert. Konservativismus ist seit jeher eine Grundkonstante der amerikanischen Gesellschaft, es ging den Herrschenden immer darum, die Leute vom Nachdenken über die Gegenwart und ihre eigene Situation abzuhalten. Deshalb schwelgt Amerika immer in irgendeiner „good old days- Trance, im Abfeiern historischer Episoden. Der Jazz, wie übrigens andere junge Künste auch, stand dazu quer, weil er seinem Publikum auch immer Stoff zum Nachdenken über die Gegenwart gab. „Don't believe the hype!“ ist der Satz, den sich die jungen Jazzer heute hinter ihre schlappen Ohren schreiben sollten. Wer die Kunst kontrolliert, beherrscht die Leute – darum geht es hier. Jazz at Lincoln Center bedeutet zwar auch eine späte Anerkennung der Kunstform Jazz, aber wenn man sich anschaut, wie denn der Jazz im Lincoln Center selbst behandelt wird, merkt man schnell, daß es hier nur um Kontrolle geht: Die Jazzer dort dürfen weder im großen Konzertsaal auftreten noch relevantes Studio-Equipment mitnutzen. Sie finden sich mehr oder weniger in einer engen Garderobe backstage wieder – das ist die eigentliche Positionierung des Jazz aus der Sicht des Establishments.

Es kann also nicht das Ziel sein, den Jazz in die Strukturen des etablierten Kunstbetriebes integriert zu wissen?

Es geht mir darum, daß der Jazz auch die Neighborhood-Leute erreicht, Menschen mit geringem Einkommen und wenig Interesse an offizieller Kultur, Menschen, die in Kleinstädten und auf dem flachen Land leben. Die Verbindung mit den Alltagsmenschen war und ist eine Lebensader des Jazz, des rebellischen Jazz. Das ist der Grund, warum wir nicht akzeptiert werden in der amerikanischen Öffentlichkeit – und hat zur Folge, daß unsere Musik dort kaum aufgeführt wird. In den letzten Jahren bin ich häufiger in Berlin als in Amerika aufgetreten. Jüngst haben wir eine kleine Tour übers amerikanische Land gemacht und dabei gespürt, daß die Leute, die dort leben, so etwas wie die Brass Fantasy noch nie zuvor gehört hatten.

Kommen wir nochmal auf die Tradition zurück. Wie ist darin ein Fortschritt des Jazz angelegt?

Der Jazz ist mit seinen 100 Jahren eine sehr junge Musik, in der noch soviel unklar und unerforscht ist. Der weiße Laborkittel drückt

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meine Überzeugung aus, daß es überhaupt nicht an der Zeit ist, den Jazz als Museumsstück zur Schau zu stellen. Wer weiß, vielleicht finden wir noch den Sound, der Berge versetzt, der Menschen aufrührt oder andere unglaubliche Wirkungen hat. Sich eine alte Platte von Miles Davis zu kaufen und die nachzuspielen, das hat noch nichts mit Tradition zu tun. Wie Miles zu spielen, hieße, an etwas Neuem zu forschen. Der Tenorsaxophonist James Carter hat jüngst erst gezeigt, wie sich zeitgenössisches Saxophonspiel heute anhören sollte: Man sollte sich von anderen musikalischen Entwicklungenbeeinflussen lassen.

Sie haben ein eigenes Musiker- Netzwerk entwickelt. Wie sieht das aus?

Etwa 30 Musiker sind heute in meinen verschiedenen Bands beschäftigt, und außerhalb dessen arbeiten sie wiederum in eigenen Bands. Wir werden nicht reich dabei, aber können davon leben. Aber hätten wir uns einst dem Diktat des Establishments unterworfen, würde es unsere Bands heute nicht geben. Ich rate meinen Musikern immer wieder, zusammenzuhalten und das gemeinsame Netzwerk zu festigen und auszuweiten. Das bedeutet eben auch, daß man ständig unterwegs ist und neue Auftrittsmöglichkeiten schafft.

Die amerikanische Jazz-Zeitschrift „Downbeat“ wählte Sie gemeinsam mit Wynton Marsalis zum herausragendsten Trompeter dieses Jahres...

Das stimmt – aber ich habe keinen Plattenvertrag. Und doch sind wir ständig auf Tournee und geben ausverkaufte Club- und Festivalkonzerte. Man kann auch Jazz ohne die Platten-Majors spielen, aber für gute Plattenkritiken und Cover-Stories in Jazz-Magazinen allein gibt uns noch keiner einen Gig. Man muß präsent sein – in New York, Paris, Tokio, Berlin – und die Musik dort aufführen, wo die Leute leben.

Wie kommen Sie in Kontakt mit den jüngeren Jazzern? Gehen Sie in die Universitäten...

...nein, ich kann in meinen Bands keine Klons gebrauchen. An den Unis können lediglich Methoden vermittelt werden, Handwerkliches also, aber nicht, wie man einen eigenen Sound bekommt und auch nicht, wie man damit umgeht, gesellschaftlich nicht akzeptiert und häufig arbeitslos zu sein und dennoch eine Familie zu ernähren. Jazz ist eben ganz wesentlich eine Frage des Lifestyles, einer bestimmten Haltung zum Leben, die auf Erfahrung basiert. Das lernt man nicht in der Uni. Ich treffe junge Musiker auf Empfehlung jener, die bereits in meinen Bands arbeiten, und das sind meist solche, die zur üblichen Mainstream-Arbeit nicht bereit sind.

Wie beurteilen Sie das auffällige Vakuum, das die aussterbenden Masters in den letzten Jahren hinterlassen haben? Wer ersetzt Miles Davis, Dizzy Gillespie...

Das ist genau das Problem, von dem ich spreche. Das amerikanische Establishment setzt auf den Kleingeist der Bürger. Nur so kommt es, daß ein Dreißigjähriger zum Jazz-Idol gepuscht werden kann, der bestenfalls über die technische Fähigkeit verfügt, bisher Dagewesenes zu kopieren. Im selben Abwasch negiert man zudem noch alles Unbequeme und Innovative im Jazz der letzten 25 Jahre, als wäre gar nichts gewesen. Das führt zu jener Orientierungslosigkeit, von der heute so viele junge Musiker befallen sind. Sie orientieren sich an einem Klon – wozu kann das führen? Wäre Stanley Crouch nicht gerade Jazz-Berater am Lincoln Center, würde keiner sich darum scheren, wenn er Miles Davis einen Verräter nennt. Kraft seiner Position wird eine solche Aussage zum Politikum. Wynton Marsalis glaubt an das, was Crouch verkündet, und an seinen Lippen hängen wiederum zahlreiche junge Jazzer, die doch gerade von Miles soviel lernen könnten. Mitte der fünfziger Jahre hat Miles bereits mit „Bye Bye Blackbird“ einen Billboard-No.1-Hit interpretiert, wie er es später mit Cindy-Lauper- und Michael-Jackson-Songs auch machte. Und hast Du von einem 60jährigen je was Hipperes gehört als sein DooBop-Album? Miles hat Jazz populär gemacht wie kein zweiter, weil er sich sein Leben lang von der Musik beeinflussen ließ, die die Leute auf der Straße summen.

Was hat sich im schwarzen Amerika seit dem militanten Aufbruch in den Sechzigern geändert?

Heute ist es um die afroamerikanische community wesentlich schlechter bestellt als vor 30 Jahren. Damals hatten wir eine segregierte community mit einer relativ eigenständigen Kultur, heute haben wir nichts. Integration war ein gigantischer sozialpolitischer Trick zur Auflösung der schwarzen neighborhoods, sie zerstörte die gesamte Infrastruktur. Die Leute, die es sich leisten konnten, zogen in andere Stadtgegenden und ließen jene zurück, die sich nichts leisten konnten. Diese verarmten Restghettos zerfressen sich heute selbst. Wir müssen lernen, gemeinsam zu leben, uns aufeinander zuzubewegen und einander zu respektieren, ohne die eigene Identität dabei aufzugeben: I'm proud to be black, aber ich muß dich doch nicht hassen, nur weil du weiß bist. Ich glaube, daß es in unserer Musik etwas geben muß, das Menschen sehr unterschiedlicher Nationalitäten, Religionen und Hautfarben miteinander verbindet. Jazz ist meine Hoffnung.

Ich habe allerdings in letzter Zeit auch mehrere jüngere afroamerikanische Jazz-Musiker getroffen, die überzeugt waren, daß ein Gros ihres Publikums Rassisten seien...

Ja, das ist mir auch unbegreiflich. Viele sind halt reichlich verwirrt heutzutage, weil es keine schwarze leadership gibt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das der tatsächliche Grund für die von dir angesprochene Paranoia ist. Jazz ist eine Musik, die keine Grenzen kennt. Und es reicht für einen Jazz- Musiker auch nicht, sich von Konzert zu Konzert zu angeln. Jazz hat was mit Denken zu tun, ist eine kreative Lebenseinstellung. Wir behaupten nicht, daß wir die besten Jazz-Musiker weit und breit seien. Wir bemühen uns, die Musik durch neue Ideen zu bereichern und zu entwickeln. Und darum, sie möglichst vielen Menschen zugänglich und verstehbar zu machen, nicht nur einer high-brow- Konzertsaalgemeinde.

Was steht als nächstes auf dem Kalender von Lester Bowie?

Wir werden bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Norwegen auftreten. Aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der Brass Fantasy planen wir, 1994 ein eigenes Festival zu organisieren, bei dem dann alle Bands, in denen wir arbeiten – vom Art Ensemble of Chicago bis zum New York Organ Ensemble –, das gesamte Spektrum unserer Musik repräsentieren werden. Das wäre doch was: ein mobiles Gegenfestival zur Model-T-Musik, oder?

Model-T?

So nannte man das erste Ford- Modell, das übers Band lief. Ein großes Auto in einer Zeit, die unwiderruflich vorbei ist. Wer will denn bestimmen, daß unsere Interpretation von Popsongs kein Jazz mehr sein soll? Zur Zeit spielen wir gern „If you don't know me by now“, und den Leuten scheint's zu gefallen, so what?

Wird es je ein gemeinsames Konzert mit Wynton Marsalis geben?

Gewiß, da bin ich ganz sicher! Es müßte sich lediglich wer finden, der mir genügend Geld dafür bietet. Dann könnte es eine nette Sache werden.

Wynton Marsalis erzählte, daß die Mutter seiner Kinder in Ihrer Nachbarschaft wohnt...

Ja, ich glaube, sie ist mit einer meiner Töchter befreundet.