„Dann setzen wir die Dampfwalze in Gang ...“

■ Das erste Jahr der Unabhängigkeit stürzte die Slowakei in eine Wirtschaftskrise

Bratislava (taz) – „Slowakischer Stern am europäischen Himmel im Jahr 2000“ – so schwärmte Jan Čarnogurský, ehemals Ministerpräsident der noch nicht selbständigen Slowakei. Ebenso könnte das Vorhaben des heutigen Ministerpräsidenten Vladimir Mečiar und seiner Regierung beschrieben werden, den kleinen Staat bis zum Jahr 2000 auf das wirtschaftliche Niveau westeuropäischer Länder zu bringen.

Nur stimmen die Zeithorizonte der beiden Politiker nicht mehr. Der Stern der slowakischen Unabhängigkeit ging plötzlicher auf, als Čarnogurský es gewünscht und viele andere gedacht hatten. Der Stern der slowakischen Prosperität hingegen wird wohl kaum so bald am europäischen Himmel erstrahlen. Seine vor einem Jahr gewonnene Eigenstaatlichkeit mußte das Land mit einem wirtschaftlichen Rückfall hinter die tschechische Republik bezahlen.

Im Gegensatz zum einstigen Schwesterstaat war die Slowakei bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein Agrarland. Die von den Kommunisten aufgebaute Schwerindustrie prägt bis heute die ökonomischen Strukturen, verarbeitende Industrie und Dienstleistungsgewerbe sind unterentwickelt. Nun hat die Teilung die Unterschiede erst richtig zum Vorschein gebracht. Zwar machen Statistikamt, Regierung und Slowakische Nationalbank in Bratislava Angaben, die sich erheblich widersprechen. Doch der starke Abwärtstrend für das erste Jahr der Unabhängigkeit ist unübersehbar.

Am Jahresende wird das Bruttosozialprodukt mindestens um zehn Prozent unter dem Vorjahresniveau liegen. Die Arbeitslosenrate, die im vergangenen Jahr noch von 13 auf zehn Prozent gefallen war, soll derzeit 15 Prozent, das Haushaltsdefizit zwischen 20 und 25 Milliarden Slowakische Kronen betragen. Die Inflationsrate liegt bei mindestens 27 Prozent, die Währungsreserven sollen von 300 Millionen Dollar zu Anfang des Jahres auf ein Zehntel zusammengeschrumpft sein.

Es war vorauszusehen, daß für die Unabhängigkeit ein hoher Preis entrichtet werden müßte. Doch der wirtschaftliche Niedergang der Slowakei beruht nur zum Teil auf objektiven Faktoren wie der ungünstigen Industriestruktur und dem Zusammenbruch der Ostmärkte. Vielmehr haben Ministerpräsident Mečiar und seine Regierung das erste Jahr weitgehend verstreichen lassen, ohne Reformen durchzusetzen.

Zu den Wahlen im Juni 1992 hatte Mečiars „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ nur ein vages Wirtschaftsprogramm vorgelegt. Über eine ebensolche Wirtschaftspolitik kam der Regierungschef im ersten Halbjahr nicht hinaus. Das Ansehen der Regierung sank durch innerhalb und außerhalb des Landes ausgetragene Differenzen im Kabinett. Zudem überwarf sie sich mit internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds, der Welt- und der Osteuropabank.

Nach dem Scheitern der tschechoslowakischen Währungsunion Anfang Februar geriet die neu eingeführte Slowakische Krone unter starken Abwertungsdruck, dem Mečiar – entgegen den Forderungen der Nationalbank – monatelang nicht nachgab. Nicht zuletzt deshalb fiel der Handel zwischen Tschechen und der Slowakei bis zur Jahresmitte um 50 Prozent. Erst Anfang Juli wertete die Nationalbank die slowakische Krone um zehn Prozent ab – nachdem sie im Februar von Mečiar 30 Prozent gefordert hatte.

Im Juni legte die Regierung eine Privatisierungsstrategie vor, nachdem sie zu Beginn des Jahres angekündigt hatte, nicht weiter die tschechische Voucher-Methode anwenden zu wollen. Zu Anfang des neuen Jahres soll die große Privatisierung beginnen. Zugleich sollten mit Steuerbefreiungen ausländische Unternehmen angezogen werden – weitgehend erfolglos. Ausländer investierten bis zur Jahresmitte 1993 rund 300 Millionen Dollar, davon allein 236 Millionen bis Ende 1992.

Nicht nur ihnen scheint Mečiars Kurs unklar, der mal zwischen Westintegration und Neuorientierung nach Osten schwankt. Lediglich an seinem autoritären Führungsstil hat der Regierungschef keinen Zweifel gelassen. Anfang Dezember druckte die Zeitung Slovensky Vychod ein ihr zugespieltes Manuskript einer Rede ab, die der Regierungschef vor Parteifreunden im ostslowakischen Kosice gehalten hatte. Wenn keine vorgezogenen Wahlen stattfänden, so Mečiar während der vertraulichen Rede, dann werde seine Partei so stark, daß „wir alle niederwalzen. Dann setzen wir die Dampfwalze in Gang, aber so, daß jeder mit offenem Maul starrt. Wenn wir jetzt so ruhig und besonnen aussehen, dann nur, um das Ausland zu beruhigen.“ Keno Verseck