Geteiltes Land, halbes Glück

■ Ein Jahr nach der Spaltung der ehemaligen Tschechoslowakei: Die neue Tschechische Republik hat den Verlust der Slowakei wirtschaftlich gut verkraftet

Prag (taz) – Was ein Hühnerei über den Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus lehrt, das haben in den Vorweihnachtstagen die BürgerInnen der Tschechischen Republik begriffen. Hatten sich vor den Lebensmittelgeschäften doch die schon fast vergessenen Schlangen gebildet und die Hausfrauen zum Horten des kostbar gewordenen Produkts verleitet. Die Folge: Der Preis für ein Ei stieg von 1 Krone 70 Heller auf fünf Kronen.

Die zuständigen Ökonomen wollten den Preissprung freilich nicht mit einem Restbestand der realsozialistischen Mangelwirtschaft erklären. Nein, ihre Analyse machte die Eierhamsterer zu den wahren Kapitalisten: Wohl wissend, daß in der Weihnachtszeit die Nachfrage nach Eiern steigt, hätten sich geschäftstüchtige Frauen und Männer einen Eiervorrat zugelegt, um ihn für einen höheren Preis zu verkaufen.

Doch natürlich ist der Eiermarkt kein Beispiel für den tschechischen Frühkapitalismus. Denn die BürgerInnen der Republik, die am 1. Januar 1994 ihren ersten Geburtstag feiert, halten ihre Wirtschaftsreformen für soweit fortgeschritten, daß der Gouverneur der Staatsbank das kommende Jahr als das erste „normale“ bezeichnet. Ohne Preisfreigabe wie 1991 und ohne die Einführung eines neuen Steuersystems wie 1993 werde es 1994 zum erstenmal keinen Wirtschaftsschock geben. Das Nationalprodukt werde nicht weiter sinken, sagt die Bank voraus, sondern um über zwei Prozent wachsen, die Inflationsrate werde sich bei 10 Prozent einpendeln.

Intensiv nachgedacht wird bei der Staatsbank auch über die Einführung der Konvertibilität der Landeswährung im Jahr 1995. Denn nach den Abwertungen in den ersten Monaten nach der samtenen Revolution ist der Wechselkurs der Krone nun seit 36 Monaten stabil. Die Devisenreserven wurden 1993 von 845 Millionen auf 3,7 Milliarden US-Dollar gesteigert. „Normalität“ auch hier: Während in den vergangenen Jahrzehnten die TschechInnen bemüht waren, auf dem Schwarzmarkt ihre Kronen gegen Deutsche Mark zu tauschen, kauften sie 1993 nicht einmal ein Drittel der ihnen nun offiziell zustehenden Devisen.

Allen Unkenrufen zum Trotz hat Tschechien das erste Jahr nach der Auflösung der Tschechoslowakei ohne größere ökonomische Erschütterungen überstanden. Zwar sank die Ausfuhr in die Slowakei um 29 Prozent, dies konnte jedoch durch den Export in andere Länder – und hier vor allem in die Länder der EU – mehr als nur aufgefangen werden. Zwar ging auch 1993 das Nationalprodukt um 0,9 Prozent zurück. Da viele Betriebe sich jedoch an den überfälligen Abbau ihrer Lager machten, stieg der private Verbrauch um 6,6 Prozent. Mit 3,3 Prozent kann die Tschechische Republik mit einer der niedrigsten Arbeitslosenraten Europas aufwarten.

Den Gürtel enger schnallen mußten die TschechInnen dagegen wegen der weiteren Umsetzung der Wirtschaftsreformen: Nicht zuletzt die neue Mehrwertsteuer steigerte die Inflationsrate 1993 erneut von 11 auf 17 Prozent, die Anhebung der Sozialleistungen und der Mindestlöhne um 10 Prozent sorgt nur für einen begrenzten Ausgleich. Zumal im kommenden Jahr die Mieten um 40 Prozent steigen sollen.

Andererseits macht nicht nur die Entwicklung auf dem Eiermarkt deutlich, daß die Tschechen auf dem besten Weg sind, die Gesetze des Kapitalismus ganz praktisch zu erlernen. Seit der Eröffnung der Börse am 6. April 1993 erklären die Medien den jungen Aktienhaltern beinahe täglich, wie sie mit ihren Papieren zu wirtschaften haben. In den Zeitungen werden seitenlange Verzeichnisse der Kurse veröffentlicht. Anzeigen von und Berichte über Investitionsfonds füllen Sonderbeilagen.

Auch das Interesse an der „großen“ Privatisierung, der Verteilung der volkseigenen Betriebe an das Volk, hat nicht nachgelassen. In der „zweiten Welle“ beteiligen sich rund 6 der 10 Millionen Einwohner Tschechiens. Abgeschlossen werden kann zum Jahresende die „kleine“ Privatisierung der Dienstleistungsunternehmen. Rund 25.000 Betriebe brachten umgerechnet fast 2 Milliarden Mark in die Staatskasse.

Nachgelassen hat jedoch das Interesse der ausländischen Investoren. Seit 1990 sind über 3,4 Milliarden Mark investiert worden, seit Ende des ersten Halbjahrs 1993 waren es nur mehr 108 Millionen. Den größten Dämpfer versetzte den ökonomischen Hoffnungen denn auch der bis dahin wichtigste Geldgeber: Nachdem der Volkswagenkonzern angekündigt hatte, seine Gesamtinvestitionen in der Automobilfirma Skoda im mittelböhmischen Mladá Boleslav von rund 8 auf 3,7 Milliarden Mark zu reduzieren, warfen nicht nur Gewerkschaftsfunktionäre den Deutschen Vertragsbruch vor. Da man nun auch damit rechnen müsse, daß die Zahl der Arbeitsplätze von 17.000 auf 7.000 reduziert werde, solle die Regierung überlegen, ob sie VW eine weitere Erhöhung des Aktienanteils von derzeit 31 auf die vereinbarten 70 Prozent gestatten solle. Doch Industrieminister Dlouhý mußte in Wolfsburg das Argument von der „Rezession in der westeuropäischen Automobilindustrie“ akzeptieren – und das, obwohl Skoda als einziger Betrieb des VW-Konzerns 1993 eine positive Bilanz aufzuweisen hat.

Entgegen den Vereinbarungen will VW aber auch den neuen Motor für die „Skodovkas“ nicht mehr in Tschechien entwickeln und fertigen, sondern nur mehr montieren lassen. Und so gibt es nicht wenige, die befürchten, daß die traditionsreiche Automarke bald ganz vom Markt verschwinden könnte. Sabine Herre