Bomben für ein proletarisches Kreuzberg

Seit eineinhalb Jahren bedroht die Berliner Gruppe „Klasse gegen Klasse“ Restaurants, Gewerbetreibende und Dachgeschoß-Bewohner: „Das hier ist proletarisches Areal“  ■ Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) – Wenn selbsternannte KlassenkämpferInnen unter die Dichter gehen, dann kann das schon mal schiefgehen. So geschehen in einem Drohbrief, den die Berliner Gruppe „Klasse gegen Klasse“ Mitte Dezember an die Adresse des Kreuzberger Bürgermeisters Peter Strieder (SPD) schickte. „Advent, Advent“, reimten die bis heute unbekannten KämpferInnen, „ein Bürgermeister flennt / denn er weiß: In einem Monat, zwei, drei oder vier / irgendwann stehen bewaffnete Arbeiter-innen vor seiner Wohnungstür / Sie machen mit den Reichen und ihren Handlangern Schluß / Revolution statt Barberei! Alles andere ist Stuß!“ Unterzeichnet war das holprige Drohschreiben mit „die Lyrikgruppe von KGK“. Ähnliche Post erhielten sechs weitere SPD-Mitglieder.

Seit gut eineinhalb Jahren zieht „Klasse gegen Klasse“, die in der Berliner Alternativ-Hochburg Kreuzberg „proletarisches Areal“ ausgemacht haben will, gegen „Yuppiepack, reiche Parasiten und schmierige Karrieristen“ zu Felde. Bedroht wurden und werden neben Bezirkspolitikern die Betreiber teuerer Restaurants, Journalisten, Kleingewerbetreibende und die BewohnerInnen neu ausgebauter Dachgeschoßwohnungen. Letztere werden als „Dachgeschoß-Lumpen“ tituliert – die BesitzerInnen kleiner Läden durften lesen: „Der einzige Platz für Mittelklasse-Schmarotzer liegt zwischen Mündungsfeuer und Einschuß!“ Rund drei Dutzend Personen erhielten derartige Drohbriefe. Daß diese ernst zu nehmen sind, wird durch eine ganze Reihe von Anschlägen unterstrichen.

Drei Tage vor den Wahlen zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen brennen am 21. Mai 1992 zwei Autos. Im Bezirk Neukölln wird der Wagen des Bürgermeisters Heinz Buschkowski, in Kreuzberg der des damaligen Bürgermeister-Kandidaten Strieder abgefackelt. Es ist der erste Anschlag, zu dem dem sich „Klasse gegen Klasse“ bekennt. Dem Selbstbezichtigungsschreiben zufolge richtet sich die Aktion gegen „Befürworter bezirklicher Vertreibungsprojekte“.

18 Monate später detonieren im Stadtteil Zehlendorf zwei Sprengsätze. Eine Rohrbombe verwüstet Wintergarten und Wohnzimmer des Leiters im Kreuzberger Stadtplanungsamt, Rudolf Hellmann. Nur wenig entfernt geht eine selbstgebastelte Bombe an der Rückseite eines Einfamilienhauses hoch. Eigentümer ist der Architekt Götz Fries, er ist an mehreren Dachgeschoß-Ausbauten in Kreuzberg beteiligt. 15 Minuten später werden mit zwei Brandsätzen die Fahrzeuge zweier ebenfalls in Kreuzberg engagierter Architekten zerstört. Es sind die vorläufig letzten „Klasse“-Taten.

Der Kampf gegen die Umstrukturierung des Kiezes und die Vertreibung ungeliebter Gewerbeprojekte hat in Kreuzberg (durchaus umstrittene) Tradition. „Klasse gegen Klasse“ kommt allerdings das zweifelhafte Verdienst zu, die Auseinandersetzungen brutalisiert und militarisiert zu haben.

Vertrieben werden soll beispielsweise das Restaurant „Auerbach“ in der Köpenicker Straße. Das „Auerbach“ soll verschwinden, weil es sich angeblich um einen „Schicki-Micki-Laden“ handelt und das Durchschnittsessen knapp über 30 Mark kostet.

Nachdem althergebrachte Aktionen, wie das Ausleeren von Fäkalieneimern in der Gaststätte („Kübel-Aktion“), die Betreiber nicht zur Aufgabe zwingen konnten, warfen die selbsternannten Klassenkämpfer am 18. Oktober gegen vier Uhr morgens eine Handgranate russischer Bauart in das Restaurant. Verletzt wurde zwar niemand, der Sachschaden belief sich aber auf rund 100.000 DM. Zwei Tage später wurde auch an der Fensterfront des italienischen Feinkostladens „Alimentari & Vini“ ein selbstgebauter Sprengsatz gezündet, verbunden mit der Aufforderung, bis Ende Januar den Kiez zu räumen. Anderenfalls folge „Plünderung oder finales Ende“ wie im Fall des „Auerbach“.

Die Spekulationen, wer sich hinter „Klasse gegen Klasse“ verbergen könnte, gedeihen und blühen. Zusammenhänge zu einer früheren „Kiez-Polizei“ werden etwa gezogen; in einer Sitzung des Verfassungsschutzausschusses verorteten die Berliner Schlapphüte die Gruppe im Umfeld „autonomer Kommunisten“; auch sollen Namenslisten potentieller Gruppenmitglieder unter den Bedrohten kursieren. Die Sonderermittlergruppe der Polizei, nach den Zehlendorfer Bombenanschlägen auf 15 Kriminal- und 30 Schutzbeamte aufgestockt, tappt offenbar weiterhin im dunklen. Sicher scheint nur, daß es sich um eine kleinere Gruppierung handelt, die auch im radikalen linken Spektrum in Kreuzberg nur wenig Akzeptanz findet.

Werner Orlowsky, Vorstandsmitglied im Bürgerverein SO 36 und seit 1978 in der Kreuzberger Kommunalpolitik, weiß, daß sich einige der bedrohten Ladenbesitzer bereits überlegen, eine Waffe hinter dem Tresen bereitzuhalten. Der Wunsch, sich so vor „proletarischen“ Säuberungsaktionen zu schützen, ist wohl aber mehr Ausdruck der Hilflosigkeit als tatsächlicher Schutz vor weiteren Anschlägen.

Als einzige Möglichkeit, den schlimmen Spuk zu beenden, sieht denn der ehremamtliche Vereinsvorsitzende, „daß sich die Leute leerlaufen und so isolieren, daß sie sich selbst in Kreuzberg nicht mehr wohl fühlen“. Orlowsky: „Wir kennen sie nicht, aber wir appellieren an sie: Hört auf! Sie ernennen sich zur Avantgarde und zum Vollzugsorgan einer proletarischen Klasse, die es hier – vor allem so – nicht gibt.“ Der Verein SO 36 organisierte für den 13. Dezember eine Stadtteilversammlung, auf der erstmals viele der Bedrohten sich zu Wort meldeten. Als nächsten Schritt möchte Orlowsky helfen, eine Kiezveranstaltung „auf breiter Basis“ auf die Beine zu stellen. Von den Betroffenen über die Kreuzberger Kirchengemeinden bis zu Autonomen, Gewerkschaftern und Kiezpolitikern aller Coleur soll dabei der Konsens erneuert werden, daß Toleranz dort endet, „wo Menschen bedroht und wirtschaftliche Existenzen vernichtet werden“. Vorgeben würden die „Klasse“-Militanten, gegen die Umstrukturierung Kreuzbergs zu kämpfen. Mit ihren Aktionen setzten sie sich aber dem Verdacht aus, nur ihre eigene „proletarische“ Umstrukturierung erzwingen zu wollen. Im Falle ihres Erfloges käme das einer „selektiven und partiellen Pol-Potisierung“ Kreuzbergs gleich.

Die Angesprochenen geben sich einstweilen uneinsichtig. Aus dem Drohbrief an den Bürgermeister Strieder: „Klasse gegen Klasse wünscht all ihren Feinden ein unruhiges 1994.“