■ tageszeitungs-Roman, Teil III
: Stille Nächte auf Tahiti – von Albrecht Lampe

Ruth Horstkotte warf Beckmann einen kurzen Blick zu, bereute die Briefmarke auf ihrem Antwortschreiben zur Suchanzeige und erhob sich. Wortlos ging sie ins Haus, eine kleine Freiheit in ihrer Seele. „Frau Meier, bitte, schicken Sie den Kerl weg. Ich war verrückt, mich auf so etwas einzulassen.“ Eine ihrer Haarnadeln fiel mit leichtem Klang auf den Steinboden der Diele, eine Strähne löste sich aus dem sorgsamen Arrangement ihres brünetten Haars.

Frau Meier ging nach draußen und sagte zu Alexander D. Beckmann, Hoch- und Tiefbau: „Fahrn Sie wech, junger Mann, Sie haben hier nichts verlorn.“

Beckmann wurde bleich vor Wut. „Ich laß mich doch nicht auf den Arm nehmen“, schnarrte er, trat wütend gegen ein grasbewachsenes Kanalrohr und ließ seinen Motor aufheulen. „Das hat Folgen, Ruth Horstkotte, Folgen sage ich!“ Mit durchdrehenden Hinterrädern raste er entlang des Kanals in Richtung Hauptstraße.

Ruth Horstkotte war so froh wie selten zuvor. „Ein Abenteuer“, dachte sie, und: „widerlich, dieser Kerl!“ Sie entledigte sich ihres grünen Jacketts und genoß die Vormittagssonne für einen endlosen Moment ohne die zermürbende Ausweglosigkeit des bleiernen Alltags.

„Sehn Sie, dschunge Frau, wech isser, wenn er nich von selbst wech wäre, hätte ich meinen Mann geholt.“ Frau Horstkotte ließ sich auch von Frau Meiers mütterlicher Fürsorge erwärmen und dachte plötzlich an Erwin Schierhold, ihren Vorgesetzten.

Schwester Gabriele klappte mit einem entschlossenen Ruck den Instrumentenkasten zu und warf einen kurzen Blick auf die Stationsuhr. Schon wieder längst nach Mitternacht, seufzte sie und hängte ihren Kittel an den Haken. Mit fahriger Geste fuhr sie sich übers Haar, ihre Augenlider brannten. Diese nichtendenwollende Müdigkeit, Bleibeine, akuter Schlafmangel machten ihr seit geraumer Zeit das Leben schwer. Sie knipste das Licht des Dienstzimmers aus und ging zur Ausgangstür. Das gedämpfte Echo ihrer Absätze verhallte, der Aufzug, vorbei an der Pforte, ihre Lungen füllten sich mit der frischen Nachtluft.

Gabriele Horstmann stieg in ihren perlmuttfarbenen Austin Mini und lauschte dem vertraut sonoren Klang des Motors. In ihrem Apartment am östlichen Stadtrand Bremens entledigte sie sich ihrer Kleidung, warf sich den weißen flauschigen Frotteemantel über und versank in den Polstern ihrer weichen Couch. Mit zärtlichem Lächeln gedachte sie des langjährigen guten Freundes, der sie gestern nacht heimlich – Nachbarn sind von beispielloser Neugierde – besucht hatte und dem sie nach inniger Umarmung Dinge gesagt hatte, die nur gesagt werden, wenn Menschen außer sich geraten vor plötzlich explodierender Leidenschaft. Der kühle Weißwein versetzte sie in einen leicht schwebenden Zustand.

Morgen würde sie lange schlafen, sich erholen, herumschlendern und an nichts denken, vor allem nicht an die Arbeit und an die Kollegin, die gewöhnlich mit ihr Dienst tat, schon gar nicht an ihre kugelrunden Kinderaugen.

An jenem Montagmorgen sorgte sich Herr Schierhold um Frau Horstkotte. Am Herzen hatte sie es, womöglich war sie der Dauerbelastung in der Kasse doch nicht gewachsen? Nervös nestelte er an den Auszügen seines Schreibtisches, der im übrigen ein Abbild seiner selbst geworden war. Auf der polierten Platte aus Eichenfurnier befanden sich in tadelloser Ordnung die Insignien seiner Filialleitermacht, der Ständer für die Schreibutensilien aus schwarzem Marmorimitat, ein silbergraues Metallineal und ein elektronischer Rechner mit Papierrolle. Auf letztere legte Schierhold besonderen Wert, weil er dazu neigte, den irritierten Kunden nach längeren Verhandlungen den Zahlenstreifen vorzuhalten, um ihnen die Absonderlichkeit ihrer Verhandlungsführung Ziffer für Ziffer nachzuweisen.

Ansonsten war nichts auf seinem Schreibtisch, keine Akten, kein Zettel, nur eine grüne Schreibunterlage war eine weitere Zeugin äußerlicher Einseitigkeiten.

In den Schubladen allerdings verbargen sich Ungereimtheiten, deren Entdeckung eine junge Auszubildende vor einiger Zeit in gewisse Aufregung versetzt hatte. Seitdem neigte sie dazu, die Hand vor den Mund zu halten, wenn vom Filialleiter die Rede war. Oben links, im Materialfach sammelte Erwin Schierhold Kronkorken. Er hatte es bisher unterlassen, dieses zumindest sich selbst zu erklären. Vielleicht war es der beiläufige Trieb, Gedanken um Dinge zu materialisieren, deren Zweck längst erfüllt schien? Unten rechts, hinter der Tür, verbarg sich ein schwarzblauer ausgestopfter Mauersegler, auf eine Steinplatte montiert. Manchmal, lange nach Feierabend, hielt Schierhold das leblose Tier in der Hand, es glitzerte ihn mit seinen schwarzen Glasaugen an, nach kurzer Zeit aber verstummte der innere Dialog mit ihm und in Schierhold blieb eine wehe Ahnung zurück. Sein Schreibtisch war das geheimnisvolle Versatzstück in den Kulissen eines sich nur zögernd entwickelnden Lebens.

Fortsetzung folgt