Weil niemand Nezarim verläßt

Die jüdischen SiedlerInnen im Gaza-Streifen hoffen auf ein Scheitern der Vereinbarung zwischen Israel und der PLO – und arbeiten daran  ■ Aus Nezarim Julia Albrecht

Stünde dort nicht ein Soldat mit einem Gewehr in der Hand und gäbe es den Stacheldraht nicht, es wäre ein paradiesischer Ort. In der Ferne das Meer, unter den Füßen Sand und Dünengestrüpp, eine Ansammlung kleiner Häuser, weiß mit roten Dächern. Auf der leichten Erhöhung einer Düne liegt die Siedlung Nezarim. Die Wache am Tor vergewissert sich per Walkie- Talkie, ob man auch wirklich angemeldet sei.

Anders als in der Westbank können sich die Siedler im Gaza- Streifen nicht auf Bergkuppen zurückziehen. Der Gaza-Streifen ist flach. Hier wählen die israelischen Siedler die Dünen oder siedeln am Meer, um zumindest von einer Seite geschützt zu sein.

Schlomit Zivs Haus liegt am Ende eines kurzen betonierten Sträßchens. Aber hier liegt alles „am Ende“. Wohin man geht, wohin man schaut, immer gibt es diesen Draht, dieses Gitter, das die Menschen von Nezarim von der Außenwelt abschließt und die Außenwelt fernhält. Hier spielen keine Kinder im Freien. Die Angst, daß sich doch einmal ein Palästinenser bis zum Draht oder sogar über den Draht hinwegtrauen könnte, ist zu groß. „Es ist ein Ort des Friedens“, sagt Schlomit Ziv. Hier gibt es keine Autos, die ihre Kinder überfahren könnten, keine Drogen und keine Gewalt. Bei geöffnetem Fenster hört sie keine Schreie, wie in der Stadt im Kernland von Israel, wo sie zuvor wohnte. „Manchmal gehen die Männer im Meer schwimmen“, sagt Schlomit. „Dann gehen sie zu sechst. Vier stehen mit den Gewehren am Strand und passen auf, die anderen schwimmen, später wird getauscht.“

Ein Blick auf die Karte zeigt Nezarim als ein kleines Pünktchen südlich der Stadt Gaza, vereinzelt im palästinensischen Gebiet. Im Sechstagekrieg 1967 wurde der Gaza-Streifen von den Israelis besetzt. Hier leben achtzigtausend Menschen auf einer Fläche von vierzig mal acht Kilometern. Fünftausend von ihnen sind israelische Siedler, die ein gutes Drittel der kleinen Fläche mit ihren drahtumzogenen Lagern einnehmen. Vor allem durch die von Militär bewachten Straßen – Siedlerstraßen, die Palästinenser nicht zu passieren wagen – wird das Gebiet im Gaza-Streifen zergliedert.

Nach dem „Gaza-Jericho-Abkommen“ zwischen Rabin und Arafat soll das Gebiet demnächst von palästinensischen Zivilbehörden verwaltet werden. Schlomit erzählt: „Ich bin aus ideologischen Gründen gekommen. Vor sechs Monaten bin ich hergezogen. Hier fühle ich mich zu Hause. Dieses Land hier ist ein Teil meines Landes, ein Teil von Erez Israel. Es braucht Hilfe, um größer und stärker zu werden. Es ist ein Stückchen Land im Mittelpunkt der Diskussion. Es war sehr wichtig, daß ich hergekommen bin. Also bin ich gekommen.“

Die Fensterläden der Häuser sind verschlossen. Menschen sind nicht zu sehen. Schlomit sitzt über der Tora. Sie ist Lehrerin in Ashkalon, einer Stadt außerhalb des Gaza-Streifens. „Ideologie“, sagt Schlomit, „ist kein negatives Wort. Alles, was wir tun, ist ideologisch. Es bedeutet, daß wir gemäß unseren Überzeugungen handeln, nach Gott und der Bibel. Ideologie ist Teil unseres Lebens, immer.“ Viele gläubige Juden bestehen darauf, daß nicht nur das nach der Teilung von 1948 an Israel gefallene Land ihnen gehört, sondern das gesamte Heilige Land, so wie es im Alten Testament umrissen ist. Aber warum bestehen sie auch auf Jericho? Heißt es doch in der Tora, daß niemals wieder ein Jude Jericho aufbauen dürfe, weil andernfalls dessen erster und letzter Sohn sterben würden. Die Antwort nach Beratung mit einem anderen Nezarimer Siedler: Die in der Tora beschriebene Prophezeiung sei schon in Erfüllung gegangen. Ein Jude habe bereits zwei Söhne verloren, weil er Jericho wieder aufgebaut habe. Deshalb sei die Drohung heute obsolet.

Morgens wird Schlomit von einem Kollegen aus einer anderen Siedlung mit dem Auto abgeholt. Es gibt keine Israelis hier, die sich jemals getraut hätten, alleine, zu Fuß, unbewaffnet auch nur einen Fuß vor die Siedlung zu setzen. Schlomit erzählt: „Wir haben immer zwei bewaffnete Männer dabei. Und die Kinder werden täglich von dieser Siedlung in eine andere, größere gebracht. Dort gehen sie zur Schule oder in den Kindergarten. Unsere Kinder sind stolz darauf, hier zu leben. Sie sind ein Teil von uns. Sie helfen uns. Sie gehen raus mit dem Bus. Vorne und hinten Militär. Manchmal bekommt der Bus einen Stein ab. Sie wachsen mit dem Gefühl auf, das wir auch haben: Wir sind hier. Wir haben eine Pflicht.“

Schlomit ist 23 Jahre alt, Mutter von zwei kleinen Kindern und Englischlehrerin. Sie ist sanft in der Art, wie sie spricht, und sie ist freundlich. Dennoch hat sie zusammen mit den anderen Nezarimern vor kurzem Reifen auf die Straße geschafft und angezündet. Die brennenden Reifen sind als Zeichen des Widerstandes von der Intifada abgeschaut, dem Aufstand der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Während die Palästinenser gegen die israelische Besatzung kämpfen, wehren sich die Siedler gegen das Abkommen zwischen der israelischen Regierung und der PLO-Führung.

„Ich glaube nicht“, sagt Schlomit, „daß Rabin recht hat. Er macht einen großen Fehler. Er sieht nicht, daß die Araber nicht zufrieden sein werden. Gaza und Jericho ist ihnen nicht genug. Ihr Ziel ist nicht Nezarim oder eine andere Siedlung. Das Ziel ist Jerusalem und Erez Israel. Arafat benutzt den Friedensprozeß langsam, aber sicher, um uns hier rauszutreten. Wenn wir hier aufgeben, dann geben wir Jerusalem auf.“

Jeder Siedler hat ein Gewehr. Seit dem 13. September werden sie zunehmend benutzt. In den Äußerungen wird die Bereitschaft zu gewalttätigen Übergriffen deutlich. Zwar ist es nur eine kleine radikale Minderheit orthodoxer Juden, die vor nichts zurückschreckt. Deren verbale Übergriffe jedoch gehören schon jetzt zum Umgangston.

„Dann wird es anarchische Zustände geben“

Da ist die Rede von der Erschießung bewaffneter palästinensischer Soldaten und davon, daß man einen palästinensischen Polizisten, der die Papiere kontrollieren wolle, kurzerhand überfahren würde. Es mehren sich die Zeichen, daß die Ultrarechten schon angefangen haben, Waffen zu sammeln. Vor kurzem wurde der Rabbi Avraham Toledano festgenommen, weil er versucht hatte, Zünder für Bomben, Schaltuhren, Sprengkapseln und anderes mehr nach Israel zu schmuggeln.

Die Israelis im Gaza-Streifen sind fast durchweg gläubige Juden. In Nezarim gibt es nur einen Nichtreligiösen, einen Zuwanderer aus Rußland. Er ist auch der einzige, der keine Familie hat. Er ist gekommen, weil er nach einem ruhigen billigen Ort suchte. „So haben sie ihn hierhergeschickt“, sagt Schlomit. Sie ist froh über jeden, der kommt.

In Nezarim wohnen nur 26 Familien. Häuser für 50 weitere Familien stehen leer und warten. Die Frage, ob sie sich eine Situation vorstellen könnte, in der sie wegginge, hält sie für hypothetisch. „Jeden Tag geschieht etwas Neues. Das Friedensabkommen zwischen Rabin und Arafat ist nicht durchsetzbar.“ Am 13. Dezember, dem Tag, an dem der Beginn des Truppenabzuges aus dem Gaza-Streifen und Jericho hätte beginnen sollen, feierten die Siedler im Gaza- Streifen ein großes Fest. Anlaß war ein religiöser Feiertag, das Ende von Hanukka. „Tausende sind gekommen, um an dem Fest teilzunehmen. Wir bekommen täglich mehr Unterstützung“, sagt Schlomit. „Wir wollen, daß die Reibereien zunehmen“, sagt Noam Federman, Aktivist der ultrarechten „Kach“. „Dann wird es anarchische Zustände geben, und die Armee wird sich gezwungen sehen, nicht abzuziehen.“

In den Jerusalemer Büros der Kach bereitet man sich auf die Zukunft gründlich vor. Hier werden Gummiknüppel bestellt, hier fließen die Informationen zusammen. Kach-Aktivisten sollen wiederholt Araber geschlagen, deren Autos angesteckt, Fenster eingeschlagen und ihre Marktstände zerstört haben.

Schlomit erzählt: „Natürlich habe ich Angst. Ich fühle mich nicht sicher hier, ich fühle mich bedroht. Aber das ist kein Grund wegzugehen. Ich habe es nicht so schwer wie andere Frauen hier. Viele haben entsetzliche Angst. Ich werde von meinen Eltern unterstützt. Sie finden es gut, daß ich hier lebe. Das macht es leichter.“ In Gusch Qatif, der größten Fläche im Gaza-Streifen, auf der ausschließlich Siedler leben, gibt es einen Psychologen, der sich um einige besonders Verängstigte kümmert. Schlomit Ziv würde nicht mit ihm sprechen. „Wenn ich anfangen würde, über meine Angst nachzudenken, dann könnte ich hier nicht mehr leben. Dann könnte ich nicht mehr schlafen. Dann würde ich schreckliche Träume haben.“

Es ist schwer, Nezarim zu verlassen, weil niemand Nezarim verläßt. Nur zu den festgelegten Zeiten, wenn die Eltern zur Arbeit, die Kinder zur Schule müssen, fahren Autos aus dem Lager, oder Busse kommen vorbei und sammeln die Leute auf. Als private und einzelne Person die Siedlung zu verlassen, das gibt es nicht. „Wenn Sie wollen“, sagt Schlomit, „können Sie sich natürlich auf die Straße stellen und trampen. Aber wenn Sie vor der Siedlung stehen, könnte man Sie für eine von uns halten.“ Die Angst in der Siedlung ist in den Alltag und die Überzeugungen eingeflossen. „Auch unsere Kinder wachsen mit dieser Angst auf“, sagt Schlomit, „wir wollen, daß sie an ihrer Angst wachsen.“