■ Die bosnische Armee ist noch längst nicht geschlagen
: Hebt das Waffenembargo auf!

Man hat über das Leiden des bosnischen Volkes, das nun schon seit bald zwei Jahren unter dem Feuer serbischer Kanonen lebt, viel geredet. Man hat über dieses neue Märtyrervolk, das wir – Tröpfchen für Tröpfchen – mit humanitärer Hilfe an der Grenze zwischen Tod und Leben halten, viel geredet, und man darf nicht müde werden, es weiter zu tun. Zurück in Sarajevo, möchte ich aber über etwas anderes Zeugnis ablegen: über den Heldenmut dieser Menschen, über ihren Widerstandsgeist und über ihre unglaubliche Willensstärke, mit der sie nicht nur sich selbst verteidigen, sondern auch Gegenangriffe auf ihre Aggressoren starten.

Oft ist die Rede von einer „Armee irregulärer Truppen, die, in rivalisierende Mafiabanden zerrissen, einer Handvoll Hitzköpfe oder gar Eierdiebe ausgeliefert ist, die vor zwei Jahren oft die ersten waren, die zu den Waffen griffen.“ Ob es nun schmeckt oder nicht, es ist eine Tatsache: Die meisten dieser „Hitzköpfe“ (die Kommandanten Yuka, Čelo, Caco und andere) wurden eliminiert oder haben das Land verlassen, und reguläre Offiziere haben nun die Armee in die Hände genommen – allen voran General Divjak, der serbischen Ursprungs ist, aber vom ersten Tag an sich für die bosnische Seite entschieden hat. Seine Professionalität, sein physischer Mut, seine Popularität bei den Truppen, seine Intelligenz in strategischen, aber auch in politischen Fragen nötigen allen Beobachtern Respekt ab.

Man sagt, es sei „eine Armee ohne Uniformen, eine zusammengeschusterte Truppe, der es an allem mangelt und die in Lumpen daherkommt“. Ja, das stimmt. Aber was heute überrascht und was ich bei meinem letzten Aufenthalt hier im September noch nicht in diesem Maß feststellen konnte, ist die Anstrengung, diese Situation zu überwinden. Eine Keksfabrik wurde in eine Werkstatt zur Herstellung von Uniformen verwandelt. Es gibt einige Dutzend Kilometer außerhalb der Stadt, auf bosnisch kontrolliertem Terrain, eine Munitionsfabrik. Natürlich ist die Bewaffnung der Truppen auf tragische Weise ungenügend, aber man geht mit dem Mangel bewußt um. Man spart, wo es geht. Gestern sagte mir Präsident Izetbegović vertraulich: „Wenn Ihr das Waffenembargo nicht aufhebt, werden wir es letztlich selbst aufheben, und wir werden diesen Krieg gewinnen.“

Man spricht von einer „besiegten Armee, die von Niederlage zu Niederlage taumelt und letztlich keine andere Wahl hat, als die Kapitulation, die man ihr aufzwingt, zu unterschreiben“. Das war vielleicht wahr. Aber es ist es nicht mehr. Denn diese bosnische Armee – es hat sich offenbar noch nicht genügend herumgesprochen – trägt Siege davon: in Zentralbosnien gegen die Kroaten, aber auch in Sarajevo, auf den Hügeln, die die Stadt umgeben, wo sie an zahlreichen Stellen (Zuc, Poljine, Grbavica, Stup, Trebevic) die serbischen Linien mehrere hundert Meter zurückgedrängt hat – gewiß, das ist nicht viel, aber in einigen Fällen reicht es, um den Würgegriff etwas zu lockern.

Ein Beispiel: Auf dem Hügel Grdonj, genauer am Ort, der „Sieben Wälder“ heißt, haben sich die bosnischen Infanteristen, wie einst unsere Soldaten in Verdun, buchstäblich eingegraben und halten wirklich die serbischen Panzer auf Distanz. Ein anderes Beispiel: Dobrinja, das alte olympische Dorf, war lange Zeit das belagerte Viertel par excellence, abgeschnitten vom Rest der Stadt, dem Feuer der Heckenschützen und den Geschossen der serbischen Artillerie gleichermaßen ausgesetzt. Gewiß ist Dobrinja auch heute kein „sicherer“ Ort. Aber die Straße, die zum PTT-Gebäude und von dort ins Stadtzentrum führt, ist freigekämpft. Der Hügel, auf dem die serbischen Kanonen standen, ist zurückerobert. Man sieht dort die Skelette von drei ausgebrannten serbischen Panzern, die von bosnischen Granaten getroffen wurden. Das ist ein weiterer Sieg, der zur Folge hatte, daß Dobrinja, das in den ersten Kriegsmonaten als das „Warschauer Ghetto von Sarajevo“ bezeichnet wurde, keine Enklave mehr ist.

Man spricht von einer „demoralisierten Armee, die jede Hoffnung verloren hat und die, mit dem Rücken zur Wand, einen aussichtslosen Kampf führt“. In Stup, auf dem Grdonj haben wir genau das Gegenteil gesehen: Menschen, die zwar vom Westen, der sie allein läßt, angewidert sind, die sich aber mit einer Entschiedenheit und einer Zuversicht schlagen, die es nicht zulassen, jene unvermeidliche Niederlage zu prophezeien, von der allenthalben die Rede ist. „Die Serben sind schlechte Infanteristen“, sagen sie, „sie sind nur stark, wenn es darum geht, aus großer Distanz Granaten abzufeuern. Doch die direkte physische Auseinandersetzung scheuen sie.“ Die Moral dieser Menschen, die in der Kälte seit Wochen in den Gräben ausharren, ist großartig. Diese Kämpfer, einfache Soldaten, haben eine beachtliche politische Klarsicht. Sie haben uns zweierlei zu sagen. Erstens: „Hier, in den Kasematten, gibt es Muslime, aber auch Serben und Kroaten; es ist eine unverfrorene Lüge, uns als islamische Fundamentalisten zu bezeichnen.“ Zweitens: „Wir stehen Faschisten gegenüber, und wir kämpfen gegen den Faschismus; wenn ihr zurückkehrt, sagt laut und deutlich, daß wir Europäer sind.“ Oder, wie sich General Divjak am Ort, der „Drei Wälder“ genannt wird, inmitten seiner Soldaten ausdrückte: „Ihr, Franzosen, habt eure Résistance gehabt, man muß den Europäern klarmachen, daß diese tapferen Soldaten in der Tradition der Gaullisten der 40er Jahre oder der spanischen Republikaner von 1936 stehen.“

Man sagt: „Die Armee kämpft ja vielleicht. Aber die Zivilbevölkerung hat die Schnauze voll, sie will den Frieden um jeden Preis, und nur der Starrsinn ihrer Führer hindert sie daran, ihn zu erlangen.“ Ich sehe mich zu einer Einschätzung diesbezüglich nicht in der Lage. Sicherlich sind viele Einwohner Sarajevos zu sehr weitgehenden Zugeständnissen bereit, um dieser grausamen Belagerung ein Ende zu setzen. Aber ich habe mindestens ebenso viele getroffen, die es genau andersherum sehen und entschieden sind, nicht nachzugeben und auf keinen Fall zu kapitulieren. „Man muß alles tun“, sagen sie, „um so lange wie nur möglich Widerstand zu leisten, um den Triumph der ethnischen Säuberung zu verhindern und zu retten, was am Modell der Zivilisation, das Bosnien verkörperte, zu retten ist.“

1944 hatten die Einwohner von Le Havre und Caen den Krieg und die alliierten Bombardements auch satt. Doch hinderte sie das nicht daran, einige Wochen später die Amerikaner als Befreier zu empfangen. Der Geisteszustand der Einwohner von Sarajevo scheint mir – ohne die beiden Situationen gleichsetzen zu wollen – nicht grundsätzlich verschieden. Und wenn gewisse Leute, meistens sind es Ausländer, in Sarajevo zum besten geben, Izetbegović sei ein Radikalinski, der mit der Zivilbevölkerung spiele, sie als Geisel halte und in Gefahr bringe, komme ich nicht umhin, mich an die seltsam analoge Argumentation jener zu erinnern, die in den 40er Jahren immer sagten: „Die Widerstandskämpfer sind unverantwortliche Leute, die nur dem Krieg einen weiteren Krieg hinzufügen und die deutschen Blitze geradezu anziehen, die dann in den Köpfen der armen Franzosen einschlagen.“ Es kommt allein den Einwohnern Sarajevos zu, darüber zu entscheiden, ob sie in ihrem Widerstand ausharren wollen oder nicht. Aber mein Eindruck ist, daß sie sich heute (morgen kann sich das ändern) überhaupt noch nicht mit einem unvermeidlichen serbischen Sieg abgefunden haben.

Kurzum, mir scheint nicht, daß die Bosnier dieses gebrochene Volk sind, das für den Schlachthof bestimmt ist, wie es uns die meisten Diplomaten seit 20 Monaten weiszumachen versuchen. Helfen wir ihnen also! Heben wir dieses Embargo auf, das sich so ungleich auswirkt, die schlimmsten Erinnerungen an die Nichtintervention in Spanien weckt und in Wirklichkeit jeden Tag dafür sorgt, daß der Krieg weitergeht! Dann werden die Bosnier durchaus in der Lage sein, den Faschismus zurückzuschlagen und an der Drina die Werte, die ja unsere sind, zu verteidigen. Bernard-Henri Lévy

Übersetzung: Thomas Schmid

Der Autor ist Philosoph und Schriftsteller, drehte jüngst den Film „Ein Tag im Sterben von Sarajevo“, lebt in Paris und reiste im Auftrag der spanischen Zeitung „El Mundo“ in die bosnische Hauptstadt.