Ein Lehrstück aus dem Westen

Mit dem EU-Hilfsprogramm Tacis soll den Nachfolgestaaten der Sowjetunion beim Umbau der Wirtschaft unter die Arme gegriffen werden  ■ Aus Moskau Donata Riedel

Die Weiße Datscha ist kein Ferienidyll. Weiß glänzt zwischen den grauen Gebäuden der Sowchose am südöstlichen Stadtrand Moskaus nur der Schnee und seit neuestem der Innenanstrich des einzigen Ladens für die 11.000 Bewohner der Weißen Datscha. Die frische Farbe kündet vom Beginn westlichen Wirtschaftens auf der Sowchose, mit Hilfe von Beratern der Europäischen Union. „Wir erzählen hier nur, wie man einen Laden organisiert, welche Güter des täglichen Bedarfs man immer verkaufen kann“, beschreibt Vaclav Stejskal seine Beratertätigkeit. Hauptsächlich die Produkte der Sowchose soll nach seinem Wunsch der Laden vermarkten. Bitter beklagt Stejskal den Trend unter russischen Einzelhändlern, für teures Geld importierte Lebensmittel aus dem Westen zu besorgen. „Sie wollten sogar holländische Tomaten anbieten, weil die schön verkaufsfertig in Kisten angeboten werden; dabei muß doch dringend der Anreiz für die Bauern bestehen bleiben, selber Tomaten und Gemüse anzubauen.“

Inzwischen verkauft das Geschäft der Weißen Datscha sowohl importierte Bananen als auch Kohl von den umliegenden Feldern. In den neuen Vitrinen liegen Tüten „Spreewälder Gebäckmischung“, aber auch Brot aus der Bäckerei, Schokoriegel und Bonbons aus russischer Produktion. Der ganze Stolz des Generaldirektors der Großfarm, Wiktor Semjonow, sind die neuen Bäckereimaschinen, mit denen außer Brot auch Pizzas und Fladenbrote hergestellt werden. Bis der Drehspieß für Gyros geliefert wird, behilft man sich mit Salami als Pita-Füllung. – Der Laden der Weißen Datscha gehört zum Programmpunkt „Lebensmittelverteilung“ des EU-Hilfsprogramms Tacis (Technical Assistance for the Commonwealth of Independent States) für die Nachfolgestaaten der UdSSR mit Ausnahme des Baltikums. Tacis ist mit einer Milliarde Mark pro Jahr seit 1991 das größte Programm für technische Hilfe weltweit. Dabei geht es um den „Transfer von Know-how“, oder, wie es der Moskauer Tacis-Leiter Dino Sinigallia, schlichter formuliert: „Sie sollen sehen, wie wir im Westen arbeiten.“ Zu Anfang allerdings bekamen die Gussen ein Lehrstück über die Mühlen der Bürokratie in multinationalen Organisationen geboten. Im Dezember 1990, als die Sowjetunion schon Auflösungserscheinungen und Anzeichen des wirtschaftlichen Niedergangs zeigte, beschlossen die EG- Regierungschefs, Hilfe zu leisten, auf daß die Umwandlung der Plan- in eine Marktwirtschaft schnell von statten und mit politischer Stabilisierug einhergehe. Tacis sollte an fünf Schwachpunkten ansetzen: Lebensmittelverteilung, Transport, Energie, Finanzsystem sowie Ausbildung für Manager und Politiker. Die Gussen waren begeistert: 5.000 Anträge verstopften die Brüsseler Tacis-Briefkästen, während die EG-Kommission noch darüber brütete, wie das Geld am vernünftigsten einzusetzen sei.

Mißtrauen wuchs auf beiden Seiten. Die Gussen erwarteten Investitionen und bekamen Ratschläge, die EGler erwarteten Ansprechpartner, die genauso multikulturell arbeiten können wie sie selbst. 1991 passierte deshalb erstmal nichts, bis sich die Brüsseler entschieden, sich vor allem in Rußland, das die Hälfte des Etats bekommt, regional zu konzentrieren: 1992 auf Moskau, St. Petersburg, Tjumen und Samara, 1993 auf Westsibirien, den Ural und Nowosibirsk. Mit der lokalen Administration wird zunächst eine Projektliste erstellt. Diese Verhandlungen dauern in der Regel ein bis zwei Monate. „Und dann“, erzählt Dino Sinigallia im neuen Moskauer Büro der EG-Kommission, „kommt unsere Bürokratie“. Die Projekte müssen in allen 12 EU- Ländern ausgeschrieben werden. Die Bewerbungsfrist dauert sechs Wochen. Zwei bis drei Wochen braucht die Kommission, um die Angebote auszuwählen, weitere zwei bis drei Wochen dauert es, bis ein Vertrag unterschriftsreif ist. Bis die Berater dann anfangen können, vergehen meistens noch ein paar Wochen. Deshalb konnte das Geld von 1991 erst bis Ende 1993 ausgegeben werden.

Der Beratungsbedarf hat zugenommen

„Die Kritik an unserer Arbeitsweise ist also durchaus berechtigt“, findet Sinigallia, der vor einem Jahr vom Osteuropaprogramm Phare zu Tacis wechselte. Zur Abhilfe schuf sich die Kommission ein Programm, das nach dem russischen Wort für schnell „Bystro“ genannt wird: Kleine Projekte darf danach die Moskauer Delegation selbständig innerhalb von zehn Tagen vergeben. Für Großaufträge allerdings sieht Sinigallia wenig Änderungsmöglichkeiten im Verfahren. „Sonst heißt es hinterher, wir hätten irgendein Mitgliedsland bei der Vergabe bevorzugt oder nach nicht nachvollziehbaren Kriterien entschieden.“

Der Bedarf an gutem Rat ist während der zwei Jahre, in denen die EG-Kommission mit der Organisation von Tacis beschäftigt war, eher gestiegen. Für die Verkäufer im Laden der Weißen Datscha gab es vor zwei Jahren nur das Problem, irgendwoher Ware zu beschaffen. Heute, nachdem in Rußland die kleine Privatisierung fast abgeschlossen ist, geht es auch darum, gegen den Importboom die heimische Produktionsbasis zu erhalten. Und die Direktoren der Industriebetriebe, denen die staatlichen Kredite immer weiter zusammengestrichen werden, müssen Marktlücken finden und die Produktionsabläufe effizienter gestalten, wenn sie überleben wollen.

Die russische Regierung wird die Energiepreise nicht auf Dauer subventionieren können: Das Energiesystem muß darum auf Sparen umgestellt werden. Die Banken müssen Überweisungen beschleunigen. Und vor allem brauchen die GUS-Staaten Gesundheits- und Sozialsysteme, bei deren Aufbau von den existierenden Westhilfe-Programmen nur Tacis helfen kann. Denn andere multinationale Organisationen, wie die Weltbanktochter International Finance Corporation (IFC) und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) fördern Investitionen.

„Vor zwei Jahren“, erinnert sich Roger Gale von der IFC, „gab es noch kaum Möglichkeiten, hier westliches Geld sinnvoll einzusetzen.“ Die IFC entwickelte zusammen mit den russischen Verantwortlichen, zuerst in Nischni Nowgorod, die Modelle für die Privatisierung (s. Taz 23.12.) Am Tag vor den Wahlen war Gale optimistisch, daß es 1994 endlich mit privaten West-Investitionen losgehen würde. Nach den ersten Ergebnissen über Schirinowskis Wahlerfolg jedoch war er ziemlich blaß.