Der Nordsee geht die Luft aus

■ 1,3 Millionen Tonnen Stickstoff bedrohen Ökosystem

Berlin (taz) – Ein tomatenroter Flies wabert unter der Wasseroberfläche. In der Umgebung erstickt das Leben. Die Alge Noctiluca scintillans saugt nicht nur allen Sauerstoff auf, dessen sie habhaft werden kann. Auch durch die Ausscheidung von Ammonium tötet sie viele Fische. Plankton und Algen in der Nordsee haben sich in den letzten Jahren extrem vermehrt. Der Grund: Etwa 1,3 Millionen Tonnen Stickstoff gelangen jährlich durch Flüsse und die Atmosphäre in das Meer. Schuld an der Überdüngung sind vor allem Autofahrer und Bauern. Zu diesem Schluß kommt das Institut für Ökologie und Politik in Hamburg, das im Auftrag des WWF Deutschland eine Studie über Stickstoffeinträge in die Nordsee erstellt hat.

Nicht jede Form von Stickstoff ist umweltschädlich; schließlich besteht die Atmosphäre immerhin zu 78 Prozent daraus. Pflanzen bauen aus diesem anorganischen Stoff Eiweiße und Nukleinsäuren auf, und wenn sie absterben, dienen sie den nachfolgenden Generationen als Dünger. In naturnahen Ökosystemen bleibt der Stickstoffgehalt in etwa konstant.

Die Bauern in der Weimarer Republik begnügten sich damit, etwa 30 Kilogramm Stickstoffe auf jeden Hektar zu bringen, um den durch die Ernte verlorengegangenen Stickstoffanteil auszugleichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber schlug die Stunde der Agrochemie. Durchschnittlich 130 Kilogramm Dünger kippt heute jeder westdeutsche Landwirt auf seine Felder, um größtmögliche Erträge in die Scheune einzufahren. Die Folge: Seit Anfang der 80er Jahre steigt der Nitratgehalt im Grundwasser extrem an. In Holland soll bereits in den nächsten Jahren ein Viertel der Trinkwasservorräte unbrauchbar sein. Dort ist der Verbrauch mit durchschnittlich 250 Kilogramm Kunstdünger pro Hektar auch europaweit am höchsten. In der Schweiz hingegen begnügen sich die Landwirte mit etwa 35 Kilogramm. Das ist klug, denn die Erträge steigen keineswegs proportional zu den Düngermengen an.

Ein großer Teil der Stickstoffe wird von den Pflanzen aufgenommen und landet so auf dem Teller oder in der Futterkrippe. Erwachsene Menschen scheiden fast den gesamten Anteil aus, so daß sich wenig später die künstlichen Düngemittel in der Klärgrube wiederfinden. Auch Kühe behalten lediglich 20 Prozent davon im Körper. Die auf die Felder gebrachte Gülle kann zwar zum Teil von den Pflanzen aufgenommen werden. Aber besonders außerhalb der Vegetationsperiode versickern große Mengen im Boden und belasten, zu Nitrat umgewandelt, ebenfalls das Trinkwasser. In vielen Ländern der Dritten Welt hingegen fehlt es an natürlichem Dünger, weil Nahrungs- und Futtermittel in die Industrieländer exportiert werden.

Als zweiten Hauptverantwortlichen für die Überdüngung der Nordsee hat die Studie den Autoverkehr mit seinen Stickoxidemissionen ausgemacht. Immerhin 400.000 Tonnen der Stickstoffe, die das Meer belasten, kommen aus der Atmosphäre – jeweils mehr als ein Drittel davon ist auf die Blechlawine und die Landwirtschaft zurückzuführen. Die höchsten Verkehrsemissionen pro Einwohner hat Luxemburg, gefolgt von Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden. Fabriken hingegen sind mit etwa 10 Prozent der Wasser- und Luftbelastung vergleichsweise unschuldig am Algenwachstum und Fischsterben.

Der Wasseraustausch in der Nordsee ist relativ gering. Während ein Wassermolekül etwa drei Jahre braucht, bis es von der Elbmündung den offenen Atlantik erreicht hat, sind festgebundene Stoffe noch weitaus träger. Insbesondere in der deutschen Bucht, in deren Nähe sich drei große Flüsse ergießen, ist deshalb der Stickstoffgehalt besonders groß. Auf Helgoland beobachteten Forscher von den sechziger bis zu den achtziger Jahren eine Verdreifachung der Planktonmenge. Dieses Nahrungsüberangebot vertreibt nicht nur Arten, die auf eine karge Umgebung angewiesen sind. Es füttert vor allem auch die Algen, die den gesamten Biohaushalt durcheinanderbringen. Matten von Grünalgen beispielsweise verhindern auf Jahre hinaus, daß dort wieder etwas anderes wachsen kann. Sie klammern sich überall fest und verhindern die Zufuhr von Sauerstoff. Auf fünf bis 20 Jahre schätzen Forscher die Erholungszeit des Meeres, wenn die Stickstoffzufuhren drastisch gesenkt würden. Danach aber sieht es leider nicht aus. Obwohl die Regierungen der Nordseeanrainer sich immer wieder gegenseitig versichern, daß sie die Stickstoffemissionen um 50 Prozent senken wollen, passiert real so gut wie nichts. Die Massentierhaltung abschaffen, keine EU-Agrarsubventionen mehr nach Größe der Bauernhöfe und eine radikale Beschränkung des Verkehrs sind die Rettungsvorschläge der Studie für die Nordsee. Annette Jensen