„Die Bundeswehr ist strukturell am Ende“

■ Interview mit dem Bremer Friedens- und Konfliktforscher Dieter Senghaas über die Blauhelm-Debatte und die düsteren Perspektiven des weltpolitischen Interventionismus

taz: Herr Senghaas, wie beurteilen Sie den Somalia-Einsatz?

Senghaas: Zwei Dimensionen müssen klar unterschieden werden. Die Bundesregierung hat den Somalia-Einsatz in erster Linie nicht um der UNO willen beschlossen und auch nicht um der Bundeswehr willen, sondern um die festgefahrene Debatte um das Grundgesetz in Bewegung zu bringen. In diesem Sinne war Somalia erfolgreich, denn das Bundesverfassungsgericht wird in den nächsten sechs Monaten eine relativ klare Entscheidung im Sinne der herrschenden Staatsrechtslehre treffen: Das Grundgesetz ist völkerrechtsfreundlich und erlaubt eine Beteiligung an Maßnahmen kollektiver Sicherheit. Die SPD wußte das und wird das Nachsehen haben. Das zweite Ziel der Somalia- Aktion war es, dem Ausland, besonders dem westlichen Ausland, zu demonstrieren, daß Deutschland keine Sonderrolle einzunehmen beabsichtigt und daß in Fragen internationaler Friedenssicherung auf Deutschland Verlaß ist.

Dafür sitzen allerdings noch immer über tausend Soldaten in Belet Huen – und warten auf ihre indischen Kollegen, die nicht mehr kommen werden. Gut 300 Millionen Mark werden hier buchstäblich in den Sand gesetzt.

Jetzt wird eine nüchterne Kosten-Nutzen-Analyse angestellt werden müssen, und zwar nicht nur in punkto Somalia, sondern generell für Aktionen dieser Art. Daß hinsichtlich der Erfolgschancen von Blauhelm-Einsätzen eine Ernüchterung eintreten würde, war eigentlich von Anfang an klar.

Seit Deutschland die volle Souveränität besitzt, fordern starke Kräfte unter dem Stichwort „Normalisierung“ eine aktivere Außenpolitik. Die Debatte darüber wird allerdings in der breiten Öffentlichkeit weder sonderlich intensiv noch auf einem besonders hohen Niveau geführt ...

Die Debatte bewegt sich auf einem sehr vagen Niveau, weil zwar oft eingefordert wird, daß die Interessen Deutschlands zu berücksichtigen seien, aber diese nur sehr selten auch benannt werden.

Können Sie diese skizzieren?

Erstens: Deutschland benötigt ein gesellschaftspolitisch kongeniales Umfeld, besonders auch im Osten. Wenn der Osten in Diktaturen und autoritäre oder gar faschistische Regimes zurückfallen würde, dann hätte das schlimme Konsequenzen für Deutschland. Zweitens: Deutschland hat keine Alternative im Hinblick auf seine weltwirtschaftlichen Beziehungen, die es zu gut vier Fünfteln mit Ländern im westeuropäischen und transatlantischen Wirtschaftsraum pflegt. Daraus folgt drittens für uns, daß wir ein unmittelbares Interesse an politischer Integration haben müssen. Viertens ist für uns eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur von vitalem Interesse. Und an Aufgaben wie der Bewältigung globaler Risiken können wir uns auch nicht vorbeimogeln.

Außenminister Kinkel scheint es vordringlich um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu gehen. Dabei ist er wie alle anderen, die die „Normalisierung“ der deutschen Außenpolitik durchzusetzen versuchen, von eigentümlicher Eile getrieben. Gerne wird als Begründung dafür der Druck der westlichen Alliierten bemüht.

Diesen Druck gibt es. Vor allem gibt es aber die Erwartung eines aktiven Parts Deutschlands von seiten der osteuropäischen Länder und insbesondere auch von nahezu jedem Land der Dritten Welt. Die praktische Erfahrung ist zudem die, daß in weltpolitischen Zusammenhängen mittlerweile sehr viel im UN-Sicherheitsrat und seinem Umkreis entschieden wird. Deutschland spielt dabei keine Rolle, ja wird sogar zum Teil von England und Frankreich bewußt ausmanövriert.

Beide Länder verfügen über eine lange, zum Teil imperialistische, außenpolitische Erfahrung ...

In Deutschland gibt es dennoch kein großes Interesse an Intervention. Und das reflektiert eine ganz nüchterne weltpolitische Lagebeurteilung, nach welcher sich heute mit geringen Kosten kein hoher Gewinn mehr einfahren läßt. Deutschland ist und bleibt ein Handelsstaat, und es gibt keine Anzeichen, daß seine politische Klasse außenpolitisch verrückt spielen will.

Während der Blauhelm-Debatte wurde bezweifelt, ob sich denn mit einer Wehrpflichtigen- Bundeswehr überhaupt weltpolitisch agieren läßt.

Das ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist vielmehr, daß die Bundeswehr in ihrer jetzigen Größe finanziell nicht haltbar ist. Wir haben uns in den vergangenen Monaten um das wirkliche Problem der Bundeswehr herumgemogelt. Man hat nicht die Frage gestellt: Was wird aus den 370.000, die Gorbatschow und Kohl festgelegt haben, sondern wir haben uns auf 1.700 Mann in Somalia konzentriert – also auf ein 0,5 Prozent- Problem! Es ist jetzt schon ziemlich klar, daß sich die 370.000 finanziell nicht durchhalten lassen und daß sie in dieser Größenordnung auch nicht benötigt werden. Der Verteidigungsetat wird 1994 unter zehn Prozent des gesamten Bundeshaushalts und unter zwei Prozent am Bruttosozialprodukt fallen. Dazu kommt, daß die Bundeswehr in den siebziger Jahren einen investiven Anteil von 40 Prozent hatte, der inzwischen auf 20 Prozent gesunken ist. Für Beschaffung im engeren Sinne sind im nächsten Jahr noch zehn Prozent vorgesehen. Dabei handelt es sich um alte Festlegungen. Wenn die Bundeswehr für Aktionen der UNO oder KSZE ausgelegt werden sollte, hat sie jetzt das Gerät nicht und auch kein Geld, es zu beschaffen. Die Bundeswehr ist strukturell schlichtweg am Ende.

Mit Out-of-Area-Einsätzen wäre demnach schon aus finanziellen Gründen nicht zu rechnen?

So ist es. Das wird dann in der Größenördnung von 500-2.000 Mann bleiben. Es zeigt sich ja in Somalia, wie teuer solche Einsätze sind. Und um sie überhaupt durchführen zu können, müßte man Aeroflot-Flugzeuge anmieten.

Worauf müßte sich jetzt das Augenmerk einer öffentlichen Diskussion richten?

In erster Linie auf den Aufbau internationaler Ordnungsstrukturen zur Krisenprävention. Ohne solche Ordnungsstrukturen setzt sich der Trend zur Renationalisierung der Sicherheitspolitk durch. Das heißt UNO, KSZE, auch die Nato würden in ihrer Substanz zerbröseln. Und die EU würde mit gewissem Zeitverzug folgen. Auch in Europa würden die zwanziger und dreißiger Jahre wiederaufleben.