Sanssouci
: Nachschlag

■ Mit einem einzigen Berlin-Kalender für alle Zeiten bedient

Wer jetzt keinen Kalender hat, der kauft sich keinen mehr. Die pikierten Blicke der Verkäufer, fragt man nach einem anderen Modell als den in der Wühlkiste enthaltenen, belehren einen über die Unmäßigkeit des geäußerten Wunsches. Die Kalenderverkaufszeit läge zwischen Juni und sagen wir Oktober, werde ich aufgeklärt. Wer erst Anfang Dezember kauft, darf froh sein, noch das richtige Jahr zu bekommen, wer vor Weihnachten fragt, bekommt vielleicht noch den immerwährenden Berlin-Kalender, ein außergewöhnlich häßlich aufgemachtes Stück. Hat man den Schock des in Hochglanz abgebildeten Reichstages mit gelben Luftballons auf der Wiese davor überwunden und schlägt das Buch auf, so suggeriert das Layout, an die Stimmung eines versmogten Berliner Januartages angelehnt, das kommende Jahr sofort abzuschreiben.

Sechs Tage befinden sich auf jeder Seite, daumenbreit ist der Platz, der für Notizen vorgesehen ist. Aber schreibt man überhaupt in immerwährende Kalender? Höchstwahrscheinlich nicht, außer immerwährende Geburts- und Hochzeitstage, da hätten wir wieder den Optimismus. Auf der gegenüberliegenden Buchseite jeweils eine Reproduktion von Berlin-Bildmotiven. Natürlich findet sich das Schloß darunter, die Mauer, ein Kupferstich der Charité sowie eine Aufnahme von John F. Kennedy. Die Bildunterschrift lautet: „Wie kein anderer amerikanischer Prädident hat es John F. Kennedy verstanden, mit vier schlichten Worten 250.000 Berliner vor dem Rathaus Schöneberg zu begeistern.“ Schön gesagt. – Dieses Werk an Kollegen zu verschenken gilt höchstwahrscheinlich als Mobbing.

Jedem einzelnen Tag sind Ereignisse der Berliner Stadtgeschichte zugeordnet. Man erfährt am 23.Juni, daß 1893 die Volksbadeanstalt an der Schillingstraße eröffnet wurde; aber auch bedeutsamere Ereignisse sind berücksichtigt, wie die Ernennung Bismarcks zum ersten deutschen Reichskanzler. Der immerwährende 31.Dezember hat nur eine Notiz: „Ein Erlaß des Polizeipräsidenten führt zur Schaffung der ersten Einbahnstraßen.“ Das ist alles! Und kein Brockhaus in der Nähe, um erfahren zu können, warum und wieso. Die Bibliotheken haben geschlossen, und man weiß nur, daß dieser maßgebliche Erlaß von 1899 stammt.

Fieberhaft die eigenen Bücher nach einem Hinweis durchforstend, stoße ich auf Walter Benjamins „Einbahnstraße“, Erscheinungsjahr 1923. Darin: „TASCHENKALENDER. Für den nordischen Menschen ist weniges so bezeichnend als dies, daß, wenn er liebt, er vor allem einmal und um jeden Preis mit sich selber allein sein muß, sein Gefühl vorerst selbst betrachtend, genießen muß, ehe er zu der Frau geht und es erklärt.“ Kontemplativ mit meinem neuen Kalender allein schließt sich endlich der immerwährende Kreis. Caroline Roeder

Berlin tagtäglich, Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, 120 Seiten, geb., 19,80 DM.