Bahnreform – großes neues Verkehrsglück?

■ Die Bahnreform wird den Schienenverkehr revolutionieren / Nur hocheffiziente Verkehrsbetriebe können mehr öffentliche Leistung für weniger Geld bieten

Deutschlands Autofahrer haben die Nase mal wieder ganz vorn. Am 1. Januar 1994 null Uhr dürfen sie zurücksubventionieren: 16 Pfennig je Liter Benzin wandern, geweiht durch den Segen der deutschen Automobilindustrie und des Deutschen Industrie- und Handelstages, in die Sanierung des deutschen Eisenbahnsystems. Die Industrie jubelt, der lange skeptische Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) signalisiert Zuversicht, Bahnchef Heinz Dürr und CDU-Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann schwärmen vom „Jahrhundertwerk“. Die Rede ist von der Bahnreform und den drei anderen eng mit ihr verknüpften Reformwerken, die nach jahrzehntelangem Gezerre jetzt unwiderruflich auf den Weg gebracht wurden (siehe Kasten).

Normale VerkehrsteilnehmerInnen, also jene über 75 Prozent der Bevölkerung, die weit mehr als 50 Prozent ihrer täglichen Wege privatautofrei bewältigen, müssen etwas länger warten, bis sie Reformwirkungen spüren. Wird es, wie viele ExpertInnen fürchten, Ende der 90er Jahre zum Massensterben der Nahverkehrsverbindungen kommen? Werden Tarife ins Uferlose steigen? Werden sich Private Rosinenstücke herauspicken und dabei kräftig absahnen?

OptimistInnen halten dagegen, endlich könne das öffentliche Verkehrssystem auf ein vernünftiges Gleis gesetzt werden. Statt einer unfähigen Bürokratenbahn und Nahverkehrsbetrieben mit verschlafener Selbstbedienungsmentalität könnten Bus und Bahn endlich autofreie Mobilität in Topqualität anbieten. Im Fern- und Güterverkehr ab 1994, ab 1996 auch im Personennahverkehr ist tatsächlich vieles anders möglich. Schon bald können deutsche Reeder eigene Güterzüge über Europas Schienenverkehrsnetz scheuchen, die TUI könnte ein eigenes Nachthotelsystem und Greenpeace vielleicht in Kooperation mit grünen Radlern und taz die neue Hamburger Straßenbahn betreiben.

Während Skeptiker und Phantasten visionieren, leisten andere längst harte Arbeit. Bei Daimler- Benz/AEG beispielsweise laufen derzeit – streng vertraulich – die Vorbereitungen auf Hochtouren, um Berlin und Brandenburg ein Angebot für die komplette Übernahme der S-Bahn vorzulegen – vom Fahrzeug bis zum Fahrscheinverkauf. Die Berliner S-Bahn genießt innerhalb der Daimler-Strategie für neue Zukunftsmärkte den Rang eines Pilotprojektes. Gelingt der Coup, könnte der Konzern ganz groß ins Geschäft auf der Schiene einsteigen. Daimler-Konkurrent Siemens übt schon im Ausland: Das Unternehmen erhielt den Zuschlag für das Stadtbahnsystem von Manchester im privatisierungswütigen Großbritannien.

Einen kleinen Vorgeschmack auf die neuen deutschen Bahnfreiheiten bot auch das – abgelehnte – Angebot eines französischen Konsortiums, den Hochgeschwindigkeitszug TGV zwischen Berlin und Dresden zu finanzieren und zu betreiben. Aussichtsreicher dagegen sind die Vorbereitungen des Bundeslandes Brandenburg: 1996 soll eine eigene Landeseisenbahngesellschaft den Zuschlag für den Regionalverkehr erhalten. Ebenfalls sprungbereit ist die Güterverkehrswirtschaft. So will die halbstaatliche Schweizer Bahngesellschaft Hupac, Spezialistin für LKW-Huckepack, die Laster künftig statt in Basel schon in Mannheim aufladen.

Die neue Begeisterung der Privaten für die Schiene ist leicht erklärt. Die europäische Deregulierung, die nach der Bahnreform auch auf Deutschlands Schienennetz wirksam wird, öffnet neue Märkte wie den Schienennahverkehr, verspricht durch private Konkurrenz aber auch bessere und billigere Transportmöglichkeiten. Das Motto: lukrative Marktchancen für Private, bessere Leistungen und attraktivere Konditionen für Wirtschaft und gut Betuchte, Absenkung der Standards für die sozial Schwachen. Kein Wunder, daß die Industrie das kostspielige Werk der Bahnreform nach Kräften förderte, ja sogar einer Mineralölsteuererhöhung zur Finanzierung der Bahnaltschulden zustimmte.

Trotz der Bundesverpflichtungen und der finanziellen Zugeständnisse an die Bundesländer wird das Geld für Erhalt und Ausbau der ÖPNV-Systeme kaum reichen, solange aus Konkurrenz zum billigen Auto die ÖPNV-Betriebsfinanzierung über halbwegs kostendeckende Tarife nicht möglich ist. Eine generelle Verteuerung des Transports auf Schiene und Straße oder gar die Einführung des Verursacherprinzips bei den indirekten Kosten des Straßenverkehrs wird jedoch – ganz anders als die Bahnreform – auf erbitterten Widerstand der Wirtschaft treffen.

Dennoch, so meinen ExpertInnen, bietet die Reform erhebliche Chancen. Voraussetzung ist freilich die Qualität von Produkt und Produktionsverfahren: Nur hocheffiziente und pfiffige Verkehrsbetriebe können mehr öffentliche Verkehrsleistung für weniger Geld produzieren, ein Ziel, für das bisher jeder Anreiz fehlte. Florian Marten, taz-Hamburg