Presse auf der Anklagebank

Überlegungen zu einem internationalen Tribunal gegen Propaganda  ■ Von Judith Vidal-Hall

Daß Journalisten für ihren Anteil am Krieg bzw. ihre Stimmungsmache vor Gericht gebracht werden sollten – dieser Gedanke ist durchaus nicht neu. Allzu oft hat die Presse in diesem Jahrhundert in Kriegen eine höchst dubiose Rolle gespielt.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, so die Autorin Sylvie Boiton-Malherbe in ihrem Buch „La protection des journalistes“, entstand eine Bewegung für das gesetzliche Verbot von „irreführenden Nachrichten und dem Gebrauch von gefälschten Dokumenten und aufhetzender Polemik“.

1927 fand eine Konferenz in Genf statt, auf der Wege gefunden werden sollten, Mißverständnisse zwischen den Völkern zu reduzieren. Der Vertreter Spaniens schlug unter anderem vor, daß die Vollversammlung des Völkerbundes gemeinsam mit Vertretern der Presse über Maßnahmen zur Vermeidung von Fehlinformationen beraten solle, da solche Fehlinformationen den „Frieden und das Vertrauen zwischen den Völkern stören können“. Interessanterweise waren damals, so die Autorin, die Intellektuellen der Auffassung, strenggenommen gäbe es gar keine natürliche Animosität zwischen den europäischen Völkern, sondern nur „künstlich hervorgerufenen Haß, der durch Presselügen hochgepeitscht“ würde.

Der Sonderausschuß des Völkerbundes, der sich mit Maßnahmen zur Verhinderung von Kriegen befassen sollte, wurde also damit beauftragt, eine völkerrechtlich bindende Definition für das „Verbrechen Propaganda“ zu formulieren. Das entsprechende Abkommen, das am 23. September 1936 endlich verabschiedet wurde, trat jedoch nie in Kraft; nur einige Staaten, darunter Brasilien, führten den Tatbestand des Propagandaverbrechens in ihr Strafgesetzbuch ein.

Ungefähr zur gleichen Zeit entwickelte sich eine zweite, ganz ähnliche Idee, nämlich die eines Internationalen Gerichtshofes für Journalisten. 1931 initiierte die „Internationale Föderation der Journalisten“ in Den Haag einen Ehrengerichtshof für Journalisten. Seine Aufgabe: die Zunft von denen zu befreien, die „durch die Veröffentlichung irreführender Nachrichten, die sie selbst als Lüge durchschaut haben, Zwietracht zwischen den Völkern säen“. Dieses Tribunal ging ganz allgemein davon aus, daß sich hinter jedem militärischen Konflikt eine Lüge versteckt. Es sollte nach entsprechenden Untersuchungen Journalisten zur Verantwortung ziehen können, sie z.B. verwarnen, Rügen aussprechen oder ihnen im Extremfall das Recht auf Ausübung ihres Berufes entziehen. Wie das Völkerbundabkommen von 1936 wurde auch diese Idee nie verwirklicht. Aber sie wurde auch nicht aufgegeben.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges griff man den Tribunalgedanken wieder auf, diesmal im Kontext des Völkerbundkomitees „für freien Nachrichtenaustausch und Pressefreiheit“. Die Präambel und Paragraph 1 seines Abschlußberichts rufen Journalisten dazu auf, „bei der Enthüllung, Berichterstattung und Interpretation von Fakten mit äußerster Genauigkeit vorzugehen und nach Wahrheit zu streben“. Einziges Ergebnis dieser Bemühungen war Artikel 20 im „Internationalen Abkommen über bürgerliche und politische Rechte“ von 1966, nunmehr bereits von der UNO formuliert, in dem schlicht „alle Kriegspropaganda verboten“ wird. Ebenfalls verboten sind demnach „alle Appelle an national, rassisch oder religiös begründeten Haß, die eine Aufforderung zu Diskriminierung, Feindschaft und Gewalt darstellen“.

Kann man heute wirklich auf bessere Resultate hoffen, wenn das bereits in den Dreißigern, als der Nazismus aufkam, und selbst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs schon alles war, was erreichbar schien?

Bei aller Mißlichkeit der heutigen Lage sieht es aber so schlecht auch wieder nicht aus. Erstens hat der Zusammenbruch des Kommunismus der Menschenrechtsbewegung das Feld überlassen – selbst wenn z.B. nach Wien viele ursprünglich nur deshalb kamen, um die Universalität dieser Rechte im Namen religiöser und kultureller Partikularität zu bestreiten. Zweitens würde heute jeder, der ernstgenommen werden will, nicht mehr wagen, von nur „formalen“ oder „bourgeoisen“ Rechten und Freiheiten zu reden. Und last but not least sieht eine erschreckte Öffentlichkeit heute vielleicht deutlicher, wie nötig es ist, den Mißbrauch der Medien zu Kriegszwecken zu tadeln.

Die Journalistin Natka Butorović (deren Bericht aus Sarajevo wir in unserer Index-Auswahl im Juli druckten; siehe taz vom 31.7.) gehört zu den wenigen, die im Zusammenhang mit dem Konflikt auf dem Balkan deutlich Namen genannt haben. Zusammen mit einigen Kollegen beschuldigte sie serbische, kroatische und auch muslimische Journalisten, sich zu Werkzeugen nationalistischer Interessen gemacht zu haben und durch einen explosiven Cocktail aus Lüge, Halbwahrheit und Verdrehung den ethnischen Wahn miterzeugt zu haben, der die Menschen aufeinander hetzte. Es gibt nur sehr wenige Journalisten, die sich diesem Druck entzogen haben und an einem beruflichen Ehrenkodex festhalten – und diese wenigen werden dann von Kollegen, Verlegern und Regierungen wüst bedroht und beschimpft.

In anderen Krisengebieten ist es ähnlich: im Kaukasus, in Tadschikistan, in Somalia. Gibt es also genug Argumente für die Wiederbelebung eines internationalen Tribunals, das Journalisten zur Verantwortung zieht? Zumindest sollten sich Journalisten, Zeitungsverleger und Organisationen zur Aufrechterhaltung der Pressefreiheit mit diesem Gedanken ernsthaft beschäftigen. Wenigstens das können sie für all diejenigen tun, die in Sarajevo und anderswo ihr Leben riskieren, indem sie Kriegspropaganda durch Verbreitung der Wahrheit bekämpfen.