Ameisen

■ Eine Erzählung von Viktor Lapitski

Ich erinnere mich gut, wie alles anfing. Ich habe meine Fingernägel immer sehr sorgfältig gepflegt und darauf geachtet, daß sie lang, sauber und gut geformt waren, und plötzlich war da etwas Schwarzes, ein kleiner schwarzer Punkt unter dem Nagel meines rechten Zeigefingers. Ich holte ihn sofort mit einem angespitzten Streichholz heraus und stellte fest, daß es eine Ameise war. Zuerst krabbelte sie ein bißchen auf meinem Handteller herum, dann flüchtete sie, und ich zerquetschte sie. Damals ahnte ich noch nicht, daß ich in meinem Körperinneren Ameisen ausbrütete. Deshalb konnte ich mir nicht erklären, woher sie kam. Ich wußte, daß eine bestimmte Art domestizierter Ameisen manchmal Wohnungen überfällt; sie leben dort dann nicht schlechter als jedes andere Hausinsekt: Flöhe, Läuse, Wanzen, Küchenschaben, Motten, Fliegen und Zecken. Wie auch immer, wenn ich abends zum Essen oder überhaupt ausging, ließ ich ein starkes Insektengift im Zimmer stehen: Fluorphosphatemulsion und ein Mistelzweiglein – und sah zu Hause deshalb auch nie mehr ein einziges Exemplar. Ich war also bezüglich der Herkunft und Geschichte dieses kleinen Insekts völlig erstaunt und ratlos. Erst später, als immer mehr Ameisen aus mir herauskamen, begann ich zu verstehen. Aber bis zum heutigen Tage habe ich sie noch nie in dem Moment beobachten können, in dem sie aus meinem Fleisch herauskommen; ich habe darüber eine eigene Theorie und werde später darauf noch zu sprechen kommen.

Zuerst kamen die Ameisen hauptsächlich unter meinen Fingernägeln hervor, obwohl natürlich auch sein kann, daß man sie dort einfach nur deutlicher bemerkte. Dann begannen sie mir aus der Nase zu krabbeln, aus den Nasenlöchern, in etwa gleicher Häufigkeit aus dem rechten und aus dem linken. Aus meinem Mund kamen sie nur, während ich schlief. Das war am Anfang, aber schließlich okkupierten sie meine gesamte Körperoberfläche. Sie tauchten besonders gern – und das tun sie bis heute – an stark behaarten Stellen auf. Ich entdeckte das zum ersten Mal, als ich mir die Haare über einem Stapel jungfräulich weißen Papiers kämmte. Fast ein Dutzend schwarzer Punkte begann sofort, hektische Zickzackbahnen zu zeichnen. Damals versuchte ich, sie zu zerdrücken, sie so schnell wie möglich zu vernichten; ich wollte sie pulverisieren, zu Staub machen, damit nichts mehr von ihnen übrigbleibt; ich schämte mich für sie und wollte alle Spuren beseitigen; und nicht eine auf diesem Papierhaufen, dieser „gestapelten Jungfrau“, kein einziges Exemplar dieser ersten „Versammlung“, wie ich das Ereignis später taufte, nicht eine entkam mir.

Dann überlegte ich, ob ich nicht zum Arzt gehen sollte, aber ich schämte mich zu sehr und versuchte es mit den üblichen Hausmitteln: heiße Bäder mit leicht giftigem Insektensirup, innere Anwendungen mit Honig und Wodka und Kohlauflagen auf den Akupunkturpunkten. Ich nahm auch Nasentropfen und versuchte im Garten Marienkäfer zu züchten, in einem Nachttopf mit Kerosin und Alkohol – mein erster Versuch zum Aufbau einer Bio-Verteidigung, aber es mißlang, denn es gab keine Schädlinge. Alles, was ich gegen die Ameisen unternahm, war etwa so wirksam wie Pfeifen im Walde. Und die Ameisen krochen mir weiter mit großer Geschwindigkeit aus Ärmeln und Ärmelaufschlägen, aus T-Shirts und Hosen, aus Taschentüchern und Handschuhen, gar nicht zu reden von Mützen, Ohrenschützern und Hüten. Erst sehr viel später bemerkte ich, wie oft sie auch in meine Kleidung zurückkrochen und darunter spurlos wieder verschwanden.

Es kann schon sein, daß sie, wie mir jetzt scheint, nicht gleich wußten, wie sie in mich zurückkriechen konnten, genauso wie sie ja, ich sagte es bereits, nicht gleich herauskamen und über mein Gesicht krochen; wenn ich wollte, könnte ich die Chronik ihrer Fortschritte nachzeichnen, wie sie Schritt für Schritt zu den weniger kultivierten Körperzonen vordrangen. Übrigens erschienen sie besonders häufig, eigentlich fast immer, dann auf meinem Gesicht, wenn mich gerade niemand ansah und ich nicht in einen Spiegel blickte. Heute kriechen sie nachts in mich zurück, aber wie sie das lernten und was sie sonst abends noch getrieben haben, weiß ich immer noch nicht – schließlich blieb nicht eine Ameise von denen, die ich damals an mir entdeckte, am Leben. Sie wachen also auf und beginnen eifrig herumzukrabbeln, sehr früh in der Regel, beim ersten Hahnenschrei und offenbar lange bevor ich aufwache, denn ich bin, das muß ich zugeben, ein Spätaufsteher und gehe nach Möglichkeit gerne spät zu Bett.

Aber zurück zu meiner, zu unserer Entwicklung. Ich konnte mich wie gesagt nicht dazu entschließen, einen Arzt zu konsultieren. Ich schämte mich... Und außerdem: Würde es helfen? Dann waren da auch immer so lange Schlangen beim tierärztlichen Schädlingsdienst. Ich versuchte es bei einem Entomologen. Aber meine Ameisenart weckte heftige Abneigung in ihm; er schimpfte über ihr Aussehen, behauptete, sie hätten keine gute Kinderstube, und verkündete, er würde sich nicht weiter mit mir abgeben, wenn ich ihm nicht ihren Stammbaum nachweisen könnte. Nun, ich wollte für ihn nicht meinen eigenen Ausweis aus der Tasche ziehen.

Zu diesem Zeitpunkt waren meine irrationalen Wut- und Haßgefühle gegenüber den Ameisen schon abgeklungen. Ich dachte mehr und mehr darüber nach, was und wer sie waren. Diese winzigen kleinen Teufelchen – waren sie nicht mein Fleisch, Fleisch von

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meinem Fleisch? An diesem Punkt erinnerte ich mich an einige historische Vorbilder, vielleicht meine Vorgänger: Plutarchs sehr genaue Beschreibung des unseligen Sulla, dessen Fleisch sich in Würmer verwandelte; und Hadrian, aus dessen Nase, wie er mit eigenen Worten überliefert hat, häufig kleine gelbliche, puppenhafte Küken krochen, die in Wirklichkeit Maden waren. Aber eben keine Ameisen oder Ameisenlarven, und Larven sind ja auch praktisch nie aus mir hervorgekrochen. Abgesehen davon beschreibt das erste Beispiel eine Verwandlung von Fleisch in Würmer, und das zweite Beispiel berichtet von Würmern (offensichtlich gelbe, belebte Fadennudeln), die ausschließlich aus der Nase kamen. Und was die Larven betrifft, war es so, daß die ausgewachsenen Ameisen sie sofort von meinem Körper räumten, nachdem ich einmal experimentell eine beträchtliche Dosis DDT genommen hatte.

Selbst unter diesen ziemlich extremen Verhältnissen schaffte ich es nicht ein einziges Mal, den Moment zu erwischen, in dem die Ameisen unter meiner Haut hervorkamen. Ich habe die Theorie, daß mein Blick entweder eine unbekannte Form von Druck auf die Haut ausübt oder daß er sie auf irgendeine Weise – physikalisch, chemisch, biologisch oder mathematisch – undurchdringlich macht. Oder die Haut ist ein Halbleiter, Diode oder Triode, und erlaubt Bewegungen nur in eine Richtung: entweder den Blick von außen oder die Ameisen von innen...

Manchmal, wenn ich bei strahlendem Tageslicht plötzlich eindöse, träume ich, daß mir eine riesige weiße Ameise aus dem Mund kriecht. Einmal hatte ich Fieber, unter meiner Achsel tobte eine Schlacht zwischen roten und schwarzen Ameisen, da träumte ich, daß meine Zunge ein Penis sei. Er erigierte langsam, kämpfte mit meinem Unterkiefer, weil ich ihn nicht herauslassen wollte; ich biß die Zähne fest aufeinander, aber das machte ihn nur noch hartnäckiger; er bockte und stieß schließlich seinen Kopf aus meinem Mund heraus; ich fühlte, wie er sich dort umsah, sich reckte und streckte und sich zu voller Größe aufrichtete; zitternd und in Erregung, sprang er mit einem Spurt und Sturz und Fall ab, schnell und ungeduldig wie ein weißer Schaumkamm auf einem Bergbach, kaum wahrnehmbar von Trab in Gang fallend; und war – eine große, wunderschöne, schrecklich weiße Ameise.

Nach diesem Erguß hatte ich weitere, sehr regelmäßig, fast jeden Monat. Aber ich fand nie heraus, ob diese Ergüsse auch Ameisen hervorbrachten. Theoretisch glaube ich nicht, daß die Sphäre der Ausscheidungsorgane, ob sie nun mit den Fortpflanzungsorganen zu tun haben oder nicht, Domäne der Ameisen oder der Termiten ist; zwar finde ich sie manchmal auch unter der Vorhaut, aber das passiert nur, wenn die Eichel sauber ist und nicht die leiseste Spur einer Flüssigkeit da ist, und natürlich auch nur, weil ich als Baby nicht beschnitten wurde. Es ist wahrscheinlich, daß die Verantwortlichen für die Ausscheidungsorgane Skarabäus und Adlereule sind, die jetzt nur nichts mehr mit den Menschen zu tun haben wollen – daher auch die kontinuierliche Regression und Verschmutzung der menschlichen Innenwelt seit Millionen von Jahren. Und ich, zirkulär und in der Sphäre meines inneren Ichs durch dunkle, innere Kreuzungen, Ausgänge, Wege und Eingänge des Ameisenhaufens fließend und schwebend, blieb deshalb völlig ahnungslos, was die Mechanik der Ausstoßung jener Substanzen angeht, die von den Ameisen verarbeitet werden, während ich durch die Schwärze meines Ichs schwimme und schwebe.

Diese innere Schwärze ist voller Farben, sie glitzert leer und eitel, man erkennt helle, bunte Sprenkel, das Licht schmeckt bitter, absolut bitter, alles ist voller Schwärze, jenseits jeder Dunkelheit. Massen näher kommender Ameisen, Gewimmel, Lärm oder Gesichter. Ich renne sie nie um, was erstaunlich ist. Sie können mich nicht bemerken. Ich sehe ihnen interessiert zu, wie sie sich unterhalten; wie ihre Zangen sich berühren; wie sie beschließen, miteinander zu reden, vielleicht über mich; ich bin allein, und sie sind viele; in den unteren Regionen meiner Gliedmaßen sind sie kleiner, vielleicht die einfachen Arbeitstypen, geschlechtslos, das kann man spüren. Merkwürdig, daß ich dies niederschreibe, denn mein Inneres hat kein Gedächtnis. Es gibt nichts dem Gedächtnis Vergleichbares. Alles, was man über das Innere sagen kann, ist, daß es schwarz ist, absolut undurchdringlich und endlos, ohne Grenzen und isotrop. Es hat keine Mitte und keinen Nabel. Und es scheint so, als ob es nicht nur kein Gedächtnis hat, sondern daß Erinnerung a priori ausgeschlossen ist. Obwohl mein Inneres mein Gedächtnis vielleicht irgendwie benutzt. Das ist schwer zu verstehen und zu glauben. Mir kommt es immer noch vor, als ob die ekligen, dicken, fettglänzenden Würmer irgend etwas mit Erinnerung zu tun haben: die weißen Larven, die im Kompost leben, ganz unten, unter dem Ameisenhaufen, darunter, in der Zone des Gehirns, kopf- und sinnlose Verbündete meines Ameisenhaufens.

Aber in den Alpträumen kommen sie mir gar nicht wie Verbündete vor, sondern wie Feinde, gräßliche Ungeheuer, deren Aussehen mir eine Gänsehaut macht, die mit Klauen und Zähnen auf Fleisch und Blut aus sind; mit einem gesägten Schnabel wie ein Pelikan stecken sie tief in den Tiefen der Sanddünen, geduldig und gewissenhaft, Ohrwürmer, Larven der Ameisenlöwen, die die Schlacht der Hethiter mit den Myrmidonen um das rechte Ufer des Acheron verkörpern. Es ist unbekannt, ob der Löwe diese innere Sphäre bedroht. Wahrscheinlich nicht. Denn sie ist vollkommen undurchdringlich für den Blick, wie meine Haut.

Manchmal hatte ich den Eindruck, daß die Gründe dafür in beiden Fällen die gleichen waren – der Blick, sein Gift. Sehr wahrscheinlich ist auch, daß jemand – übrigens gut möglich, daß ich selbst das bin – die ganze Zeit über die Sphäre wacht, von außen oder innen, das ist gleichgültig, um ihre Undurchdringlichkeit wie die der Haut zu bewahren. Ich habe eine Reihe von Experimenten mit dem Blick entwickelt. Ich betrachtete mich selbst im Spiegel, und mein Gesicht war undurchdringlich. Dann beobachtete ich in einem zweiten Spiegel, wie ich in den Spiegel sah, und das Ergebnis war das gleiche. Dann sah ich in einem dritten Spiegel, wie ich mir mit Hilfe des zweiten Spiegels dabei zusah, wie ich mich im Spiegel ansah, und immer war es dasselbe, nämlich so, als ob ich mich direkt ansähe, mir selbst in die Augen blickte.

Auf der Grundlage dieser Ergebnisse entwickelte ich eine Theorie der Spiegelungen. Könnte es sein, daß ich vielleicht ein Basilisk war, ein Fabeltier mit einem tödlichen Blick? Und kaum hatte ich meine Augen geschlossen und mich zum Schlafen niedergelegt, als mir zweimal-geborene Wesen aus den Wangen traten wie aus dem Haupt von Zeus. Manchmal überkam mich Schwäche, und auch Verzweiflung ergriff mich, war zum Greifen nahe, etwas in mir forderte, daß ich mich ändern solle. In solchen Momenten ergriff ich meist ungewöhnliche und radikale Maßnahmen.

Einmal bewaffnete ich mich mit der größten Enzyklopädie – sie heißt „Soviet“, wegen ihrer Bandbreite – und studierte darin, was ich konnte, jeden Artikel über Insekten und über die innere Welt der Menschen und ihrer Seelen. Das erweiterte meine eher bescheidenen Kenntnisse enorm, setzte meine Phantasie in Bewegung und verhalf mir zu einem neuen Verständnis vieler, wenn nicht aller Phänomene der realen Welt. Es zwang mich insbesondere, mich erneut Freuds Theorien zuzuwenden, und ich kam schließlich zu der Überzeugung, daß das Problem der Sexualität eng mit allen ameisigen Aspekten der Welt und meinem psychischen Leben zusammenhängt.

Ich hatte das Gefühl, als erstes mein Sexualleben normalisieren zu müssen, und ging von nun an öfter ins örtliche Bordell. Aber dort erwartete mich eine Enttäuschung. Alle meine Partnerinnen fingen sofort an zu kichern, sobald ich sie berührte, und wenn ich überhaupt einmal bis zu den Lenden kam, brachen sie in schallendes Gelächter aus und kreischten, daß ihre Haut kribbelte, daß es kitzelte, unerträglich kitzelte, und daß ich aufhören sollte. Ich kriegte Angst und hörte auf. Nach diesem Fiasko ließ ich meinen Penis erst einmal eine Zeitlang vollkommen in Frieden.

Ich beschloß, meine Umgebung zu verändern, zu reisen, vielleicht waren die Ameisen ja eine Eigenschaft meines Hauses, meiner Wohnung, meines Zimmers, meiner Enge. Aber auch hier wartete eine Enttäuschung auf mich. In der ersten Nacht mietete ich mich in einem schick möblierten Zimmer eines beliebten Hotels ein. Unzählige Wanzen bewohnten die Kammer, meine Ameisen vertrieben sie, und am nächsten Morgen gab es Ärger, man warf mich hinaus, und ich konnte noch von Glück sagen, daß ich nicht auch noch eine Geldstrafe bekam. Deprimiert kehrte ich nach Hause zurück, das Leben war gnadenlos.

Nach ein paar Tagen Quälerei beschloß ich, reinen Tisch zu machen. Ich ging auf den Markt und kaufte Giftpilze. Daraus kochte ich das köstlichste Gericht, das man bei Escoffier finden kann – mit Pilzen gefülltes Lachsfilet in Zyanidsauce – und deckte den Tisch für mein letztes Mahl. Danach war mir nicht einmal schlecht, ich fühlte mich nicht einmal unwohl. Die Ameisen dagegen starben zu Tausenden, ihre Leichen und Leiber, deformiert von den letzten Zuckungen, furchtbar geschwollen und bereits in Verwesung übergehend, tropften mir von der Haut. Aufgetriebene Eingeweide, ganze Haufen von Halbverdautem, das aus ihren geplatzten Bäuchen gequollen war, krampfende Geschwüre, matt zitternde und zusammengeklappte Gliedmaßen, blaue Zungen, süß-schwerer Leichengeruch...

Das Ergebnis war wie ein mächtiger Aderlaß, und ich muß gestehen, daß ich mich danach frisch und belebt fühlte und meine Gedanken sich aufhellten. Ich nahm ein Bad und begann einen neuen, maßvolleren Lebensabschnitt. Meine Gewohnheiten veränderten sich. Ich hielt mich jetzt häufiger fern vom Lärm und von der leeren Eitelkeit der Stadt. Ich verbrachte immer mehr Zeit in Wäldern, Gärten und Parks, mitten in Hecken und Hölzern, beobachtete die dortigen Ameisenhaufen, sah manchmal einer Schmeißfliege mißbilligend hinterher und ließ mein Auge liebevoll auf den dichten Schwärmen freundlicher kleiner Insekten ruhen. Die Ameisen trippelten durch das Knotengras wie Vögel im Buchweizen, errichteten hier und da einen kleinen Haufen, Behausungen für ihre Art, gingen ihren Beschäftigungen nach, und in den Zweigen über ihnen sprangen die Eichhörnchen umher, knabberten Fichtenzapfen, und manchmal schwebte der Schatten einer einzelnen auffliegenden Gans vorbei; ich wollte Teil der Natur werden, mit ihr verschmelzen und lag stundenlang nahe bei den Ameisen; ich wollte einen Austausch, einen Stoffwechsel zwischen mir und dem Gras, einen Austausch mit den Ameisen, obwohl ich in der Natur nie welche fand, die meinen ähnelten, geschweige denn gleich waren.

Abends wanderte ich durch das nicht abreißende Zirpen der Zikaden nach Hause und schlug nur müde nach den Schwärmen aufdringlicher Grünspechte; ich hörte Musik, ich kam zu mir; mein Musikgeschmack veränderte sich langsam. Vorher war mein Lieblingssänger Tito Gobbi gewesen, jetzt gab ich eindeutig den Hymnen Formico Ruffos den Vorzug. Ich fiel bei den Klängen seines bezaubernden Soprans in Schlaf, und in meinen Träumen gab es keine Ameisenhaufen und keine schwarzen Sphären mehr. Vielleicht den Kopf einer Nadel. Genauer gesagt: eine Art Punkt, ein Punkt, kleiner als das Auge einer Ameise, erfüllt mit meiner Vorstellungskraft, meinem Bewußtsein, meinem Gedächtnis, meinem Begehren, meinem Namen.

Es stellte sich heraus, daß es nicht mein Bewußtsein war, sondern etwas Größeres... Wieder weiß ich nicht, wie ich es nennen soll... Dieser Punkt erschien in einem umschlossenen Garten... Auf einem Abhang, inmitten allergrünsten Grases, beim Trillern der Vögel, im Schatten rauschender Bäume, bei Blumenduft, zu süßen Klängen, vielleicht einer Harfe und dem summenden Baß von Bienen... Und daneben eine wunderschöne Dame, ein Mädchen... immer dieselbe... Nein, jedesmal eine andere... O, keine ärmliche, nein... In prächtigfarbenen Kleidern, wie ein schöner großer Schmetterling, ein Schwalbenschwanz.

Im Erwachen schliff ich meine Traumbilder am Wetzstein meines Bewußtseins und überantwortete sie meinem Verstand. Damals hätte ich am liebsten geheiratet und ein ruhiges Familienleben begonnen, ein möglichst glückliches. Ich träumte von einer zarten Gefährtin, einem jungen Mädchen mit flachsfarbenem, langem Haar, mit möglichst vielen Läusen darin – und nicht nur dort und nicht nur Läuse. Aber all diese himmlischen Träume wurden grob zerstört, zertrampelt von schamloser Wirklichkeit. Ich würde eigentlich am liebsten gar nicht darüber sprechen, was dann geschah... Ich gab eine kleine Kontaktanzeige auf, in der ich meinen Hauptwunsch nach einer möglichst großen Zahl an Insekten auf meiner Gefährtin betonte; im Prinzip wollte ich nichts anderes als eine Blonde mit Läusen. Zuerst traf ich eine verflohte Brünette auf einer Cocktailparty, aber ihre Flöhe überlebten unsere erste Begegnung nicht, und so trennten sich unsere Wege wieder. Ich begriff, daß mir dasselbe auch mit der verlausten Nibelungenblondine passieren würde. Und natürlich hatte ich recht. Auf diese Weise wurde mein Ehewunsch geheilt.

So lebte ich also, und nichts Ameisiges war mir fremd, nur die sexuelle Sphäre blieb eine leere Öko-Nische in meinem Universum. Zwar lernte ich, meine Gebärmutter und meine Hoden von innen zu spüren, ihr Orgasmus ließ mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen, aber das war es dann auch. Alles schien gut zu werden, als ich mir im Zoo einen Ameisenbär kaufte. Er gehört zu den eher schwer absetzbaren Artikeln, und sie verkauften ihn mir mit Freude und einem Halsband und billig dazu. Ehrlich gesagt, wußte ich selbst nicht, wofür ich ihn gekauft hatte: Intuition, reine Intuition. Das Füttern des Ameisenbärs machte naturgemäß keine Schwierigkeiten, aber zuerst gab ich ihm sein Essen hauptsächlich aus den Händen. Dann weitete er sein Menü aus, und erst viel später fanden wir beide heraus, wie es am besten war, und dabei gab es zwei völlig verschiedene Methoden.

Haben Sie je einen Ameisenbär gesehen, seine lange Schnauze, seinen Mund, von nahem? Wahrscheinlich nicht. Also, seine Schnauze mündet in einem langen vaginalen Horn mit weichen, aber muskulösen Innenwänden – viel angenehmer zu berühren als ein normaler Gaumen –, und gleichzeitig ist dieses Horn sehr eng und drückt fest, zitternd, von allen Seiten, vor allem wenn er eine Schluckbewegung macht, was er immer dann macht, wenn Flüssigkeit im Maul ist. Und erst seine Zunge! Er hat eine extrem lange, weiche Zunge, und seine Meisterschaft über sie gilt allgemein als unübertroffen, was ich bestätigen kann. Er konnte sie zu einer Spirale drehen, einen Löffel formen oder ein Möbiusband, er konnte mit ihrer Spitze stechen, feucht lecken, ruhig saugen, konnte sogar sanft damit schlagen, geißeln, sie als Schlinge benutzen, ach, was konnte er nicht alles mit ihr machen! Wir lebten nicht lange zusammen, aber ich war ihm mit ganzem Herzen und ganzer Seele zugetan, meinem kleinen Bären, meinem Kätzchen. Es endete traurig. Ich war zwei Tage weg, mit jungen Naturliebhabern unterwegs, um alle Singvögel auszurotten, die sich von Ameisen ernähren, und als ich zurückkehrte, schätzte er seine Kapazitäten falsch ein: Er schlang zu gierig, verschluckte sich und erstickte. Ich weinte bitterlich um ihn. Im Zoo sagte man mir, daß die Produktion von Ameisenbären aufgrund mangelnder Nachfrage eingestellt worden war.

Dieser Verlust war irreparabel. Es waren schwere Tage für mich, Tage voller Qual, Fegefeuertage. Plötzlich aber merkte ich, daß sich meine unnatürliche Ameisenselektion positiv auf den Gesamt- Ameisenhaufen ausgewirkt hatte. Er hatte sich selbst neu strukturiert, seine Grundgruppierung entscheidend vereinfacht; sie auf etwa zwei Zehntel derer, die ihn aufgebaut hatten, reduziert, und nur eines dieser Zehntel war frei; die Ameisen waren stärker geworden, durchsetzungsfähiger, vereint; eine ununterscheidbar von der anderen, wo immer sie erschienen; sie waren identisch, mit einem Wort: das gesamte System hatte einen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht.

Nachdem ich diese Katharsis überlebt hatte und von allem Dreck gereinigt war, begriff ich, daß der Ameisenbär eine große Prüfung gewesen war, die ich – vom obersten Ameisenhaufen, vom schwarzäugigen Geist, nehme ich an – auferlegt bekommen hatte; daß ich mich einer Initiation unterzogen hatte; und nun weiß und glaube ich, daß mein Ameisenhaufen sein Ziel erreicht und eine mystische Einheit mit dem höchsten Ameisenhaufen gebildet hat.

Endlich begriff ich auch meine sexuelle Bestimmung. Ich ging zum Stadtpark, fand den größten Ameisenhaufen unter einem Wacholderstrauch und vollzog auf ihm einen feierlichen sexuellen Akt. Damit war meine zweite Geburt vollendet, eine Geburt aus chaotischer Schwärze, aus einem verlorenen Leben, in dem es von Irrtümern gewimmelt hatte, hinein in die ewig strahlende Wahrheit des himmlischen Ameisenhaufens, der da kommen wird und in ein himmlisches Licht getaucht, das ich, mit Lastern und Sünden beschmutzt, für Schwärze gehalten hatte. Ich glaube, daß meine Seele, nachdem ich die schwarze Sphäre eines Mittelpunkts verworfen habe, frei und freudig nach oben strebt, einem gigantischen, unaussprechlichen Ameisenhaufen entgegen, der von Ameisen bewohnt und belebt ist, die selbst Ameisenhaufen sind und meinen eigenen unvergleichlich übertreffen...

Deshalb, da ich das Näherkommen des Todes und seiner Löwenschwingen fühle, an der Schwelle zur Transsubstantiation, bitte ich Euch: Setzt einen Ameisenhaufen auf mein Grab! Häuft Fichtennadeln darauf!

(Deutsche Übersetzung von Uta Ruge nach der englischen Fassung von Michael Molnar)