Größere soziale Gerechtigkeit

■ Interview mit Angel Colon, dem Vorsitzenden der linksorientierten Partei ERC, die als drittstärkste Partei Kataloniens Autonomie in allen Bereichen für ihre Region fordert

taz: Die ERC gehört zu den treibenden Kräften, die stärkere finanzielle Ressourcen für Katalonien fordern...

Colom: Jedes Jahr raubt Madrid Katalonien wirtschaftlich aus, das beläuft sich auf mehr als eine Billion zwei Milliarden Peseten jährlich. Wir fordern, daß Katalonien sämtliche Steuern einnimmt und davon einen festen Teil an Spanien abtritt. Dadurch würden wir 750 bis 800 Milliarden Peseten jährlich zurückbekommen.

Regionen wie Andalusien oder Extremadura beschweren sich jedoch, diese Haltung sei wenig solidarisch...

Die sozialistischen Führer von Extremadura und Andalusien und ihre lokale Bourgeoisie nutzen die öffentlichen Ressourcen aus, die sie im Namen der Solidarität erhalten, um für die PSOE (Sozialistische Partei) Stimmen zu erhalten. Die Unterstützungskultur in Andalusien und Extremadura ist keine Solidarität, sondern eine andere Art der Kolonialisierung. Zwar ist Südspanien nicht mit Süditalien gleichzusetzen, denn in Süditalien gibt es eine Mafia und Camorra. Für Südspanien kann man nicht von Mafia oder Camorra reden, aber wohl von einigen camorristischen sozialistischen Führern. Damit werden wir nie solidarisch sein.

Was würde sich im Fall der Unabhängigkeit ändern, außer der finanziellen Seite?

Das Finanzielle ändert alles. Ein Land mit mehr Geld hat mehr Aufschwung, es ist wettbewerbsfähiger, es hat mehr Zukunft, kann ein größeres Gleichgewicht der Einkommen haben und eine größere soziale Gerechtigkeit. Auf politischem Gebiet muß unsere Außenpolitik nicht unbedingt dieselbe sein wie die spanische; für Europa sehen wir ein föderales, kein zentralistisches Prinzip vor. Wir Katalanen unterscheiden uns in einem wichtigen Punkt von Gesamtspanien: Wir haben in Lateinamerika nichts verloren. Wir sind ein eindeutig europäisches Land. Es hat immer eine enge Beziehung zwischen der französischen und der katalanischen Kultur gegeben. Ich leugne nicht, daß ich für Frankreich eine besondere Sympathie empfinde.

...obwohl ein Teil Kataloniens französisch ist?

Darüber würden wir bei Gelegenheit verhandeln.

Gibt es Parallelen zwischen ERC und den italienischen Ligen?

Ja, in einigen Punkten. Wir gehören derselben europäischen Einrichtung an, der Freien Europäischen Allianz, und derselben Fraktion, der Regenbogenfraktion. Und wir stimmen mit ihnen bezüglich der Ausraubung durch unsere jeweilige staatliche Hauptstadt, Rom und Madrid, überein.

Und die Unterschiede?

Sie beziehen sich auf soziale Sensibilität. Wir sind eine klar linke, fortschrittliche Kraft, während die Ligen in diesem Bereich weniger definiert sind. Bezüglich der stark regionalistischen Konzeption Europas stimmen wir überein, und deshalb sind wir auch in denselben Einrichtungen organisiert.

Haben Sie bei Ihren Forderungen nach Unabhängigkeit keine Angst vor ähnlichen Prozessen wie in Jugoslawien oder der UdSSR?

Unser geopolitischer Rahmen hat damit gar nichts zu tun. Im Kaukasus gibt es historische ungelöste Regionalkonflikte, und die müssen gelöst werden. Dazu muß man Mut haben, um sie nicht zugunsten der Metropole zu lösen, sondern zugunsten der Völker. Was den Balkan angeht, so ist dort traditionell viel Blut geflossen.

Nie hat man angenommen, daß in Sarajevo das geschehen könnte, was geschehen ist. Es war zivil und friedlich. Auch von Katalonien glaubt niemand, daß so etwas passieren könnte...

Gott sei Dank ist zwischen dem spanischen und dem katalanischen Volk nie Blut geflossen. Der Bürgerkrieg war keine Konfrontation zwischen Nationen, sondern vor allem von Systemen. Die Situation hier ist mehr eine gegenseitiger Vorbehalte, die zwar sehr wohl zu Konfrontationen führen können, aber ich bin überzeugt, daß sie nicht gewalttätig sein werden. Aber ich sage auch ganz klar: Wir Katalanen werden eine Assimilierung durch Spanien nicht dulden, in gar keinem Fall. Wir werden unsere Positionen mit allen – natürlich demokratischen – Mitteln verteidigen. Und das müssen die Spanier wissen. Und auch, daß wir, wenn es eines Tages eine demokratische Mehrheit in diesem Parlament gibt, einseitig die Unabhängigkeit erklären werden, von hier, vom Parlament aus.

Und das Militär?

Das bleibt schön still in seinen Kasernen. Innerhalb der EU ist ein Staatsstreich gegen einen demokratischen Akt undenkbar. Und das wäre es in unserem Fall. Das Gespräch führte Antje Bauer