Erst unterschreiben, dann protestieren

Europa dient Politikern zu Hause als Sündenbock für unpopuläre Maßnahmen  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Als der französische Außenminister Alain Juppé wenige Stunden vor dem endgültigen Gatt-Abschluß noch einmal vor die internationale Presse trat, legte er es geradezu darauf an, sich allseits unbeliebt zu machen. Mit hämischem Grinsen unterstrich er die Dreistigkeit, mit der Frankreich soeben seinen europäischen Partnern einen finanziellen Ausgleich für die Gatt-Zustimmung abgepreßt hatte. Der Auftritt verfehlte nicht seine Wirkung. Alle wichtigen europäischen Zeitungen geißelten den französischen Egoismus, was Juppé zu Hause große Anerkennung einbrachte.

Juppé ist kein Einzelfall. Es gehört zum festen Repertoire vieler Politiker, sich in Brüssel Feinde zu machen, um sich zu Hause damit zu brüsten. Früher war das vorwiegend eine englische Spezialität. Ein britischer Wirtschaftsminister, der von der kontinentalen Presse gelobt worden wäre, hätte zu Hause einen ähnlichen Empfang gehabt, wie eine kanadische Eishockeymannschaft, die von der Weltmeisterschaft den Fairneßpokal mitgebracht hätte. Inzwischen sind die Sitten jedoch insgesamt härter geworden. Selbst in Germanien, dem Land der Mustereuropäer, hat sich der Landwirtschaftsminister in den letzten Monaten mehrfach an die Spitze antieuropäischer Bauernproteste gestellt, um gegen Maßnahmen zu wettern, die er in Brüssel selbst unterschrieben hat. So hatte Borchert den Abschlachtaktionen im Gefolge der Schweinepest ebenso zugestimmt, wie sein Vorgänger Kiechle die Flächenberechnungen für Ostdeutschland abgesegnet hat. Je größer die Schwierigkeiten im eigenen Land, desto größer ist die Neigung vieler Minister, für unpopuläre Maßnahmen die Europäische Union verantwortlich zu machen. Das ist um so leichter, als die europäischen Entscheidungswege auch für Eingeweihte schwer durchschaubar sind.

Die vielgescholtene Europäische Kommission mit ihrem unbestreitbaren Hang zu bürokratischen Wucherungen hat dabei weit weniger zu sagen, als ihr unterstellt wird. Alle wichtigen Entscheidungen werden von den Vertretern der zwölf Regierungen im Ministerrat gefällt. Die 90seitige europäische Baustellenrichtlinie, die zum 1. Januar in Kraft tritt und nach Ansicht des Bundesarbeitsministers den Bemühungen um Vereinfachung der Bauvorschriften diametral widerspricht, wurde vom deutschen Arbeitsministerium mitbeschlossen. Und die Richtlinie zur gegenseitigen Anerkennung der Architekten-Ausbildung, die wegen ihres Umfangs und ihrer ins Detail gehenden Ausführung zu Stoibers Lieblingsbeispielen Brüsseler Regelungswut gehört, wurde auch von der bayerischen Landesregierung unterschrieben. Ausbildung ist schließlich Ländersache, und deshalb muß die Bonner Regierung solche europäischen Richtlinien auch in den Landeshauptstädten zur Zustimmung vorlegen. Stoibers kleinlaute Erklärung, als er in Brüssel darauf angesprochen wurde: „Wir haben unterschrieben, um gestalterisch zu retten, was zu retten war.“ Die Bundesregierung ist nach Artikel 2 des Zustimmungsgesetzes zu den römischen Verträgen verpflichtet, Bundestag und Bundesrat über alle europäischen Entscheidungen auf dem laufenden zu halten. Wenn das als Kontrolle nicht reicht, dann liegt das nicht an der europäischen, sondern an der deutschen Gesetzgebung. Das britische und das dänische Parlament verlangen von ihrer Regierung, bei wichtigen Entscheidungen nicht nur nachträglich informiert, sondern vorher gefragt zu werden. Jüngstes Beispiel ist der Parlamentsvorbehalt beider Länder bei den Beschlüssen zur Stahlsubventionierung. Doch im Bundestag zeigt die Bundestagsmehrheit bisher wenig Neigung, der Bundesregierung das Europamonopol streitig zu machen. Der von Renate Hellweg (CDU) geleitete Europaausschuß arbeitet äußerst unauffällig und achtet darauf, daß die deutschen Minister in Brüssel die Hände frei haben. Detailinformationen über geplante Ministerratsbeschlüsse kommen eher über das dänische oder das ebenfalls besser informierte holländische Parlament an die Öffentlichkeit.

Manch deutscher Minister weiß die europäische Freiheit zu schätzen. Gelegentlich klagt der inzwischen mit seinen europäischen Visionen ziemlich einsame Kanzler, daß einige Kabinettsmitglieder zu Hause abgelehnte Gesetzesinitiativen auf dem Umweg über Europa wieder ins Spiel bringen. Beweisen kann das freilich auch der Kanzler nicht. Die Initiativen für europäische Rechtsakte tragen keine Absender. Vorschriften, Richtlinien und Entscheidungen werden von der Kommission ausgearbeitet und von den zwölf Finanz-, Landwirtschafts- oder sonstigen Ministern beschlossen. Aber wer sich in Brüssel beispielsweise für eine europäische Richtlinie zur Vereinheitlichung der Toilettenschüsseln stark gemacht hat, das steht nirgends drauf. Rund 80 Prozent der Vorschläge kommen aus den Mitgliedsländern, mehr als die Hälfte davon aus der Bundesrepublik. Hinter der Regelungswut der Europäischen Union steht in den meisten Fällen entweder die betroffene Exportbranche oder ein Politiker, dem der Handlungsbedarf aus seinem Wahlkreis nahegebracht wurde. Die Vorschriftenhuberei ist zudem keine europäische Erfindung. Im Fall der Toilettenschüsseln löste die EG-Richtlinie eine Reihe bereits bestehender nationaler Toilettenschüssel-Vorschriften ab. Nutznießer waren auch einige deutsche Sanitär-Hersteller, die sich durch abweichende Regelungen in den Nachbarländern in ihren Exportchancen benachteiligt fühlten. Das europäische Hauptproblem ist nach wie vor, daß in Brüssel wichtige Entscheidungen ohne geeignete parlamentarische Kontrolle getroffen werden. Doch dem europäischen Parlament die nötigen Kompetenzen zu geben, das wäre das letzte, was die Neu-Nationalisten wirklich wollen. „Weitergehende Parlamentsrechte“, schreibt beispielsweise die bayerische Staatsregierung in einem Positionspapier zu Europa, setzten einen europäischen Staat voraus, „der weder vorhanden noch in absehbarer Zeit gewollt und erreichbar ist“.