Algerien sehen und verstehen lernen

■ Sabine Kebirs persönliche Erfahrungen mit einem islamischen Land

„Das Leben war schwer dort. Es hatte nichts von dem, was eine Frau sich normalerweise wünscht. Die elf Jahre, die ich in Algerien verbrachte, konnte ich nur aushalten, weil ich mir etwas Ungewöhnliches vorgenommen hatte: Ich wollte an einer Emanzipationsbewegung teilnehmen. Und dazu brauchte ich einen politischen Raum, der flexibler war als die DDR mit ihrem verknöcherten Sozialismus. Aber als ich im Januar 1988 im Flugzeug über die algerische Küste aufstieg, um nach Westberlin zu ziehen, war ich nahe daran, das Land zu verdammen. Es hatte ebensowenig wie die DDR vermocht, sich wirklich vorwärtszubewegen.“

Doch es hatte sich etwas bewegt – in der DDR und in Algerien. Acht Monate nach Sabine Kebirs Abflug aus Algier, im Oktober 1988, läutete ein blutiger Aufstand vorwiegend junger Männer das Ende der Einparteienherrschaft in Algerien ein. Ein vorsichtiger Demokratisierungsprozeß begann, der jedoch nach dem Wahlsieg der islamischen Heilsfront FIS Anfang 1992 vom Militär zunächst gestoppt wurde. Heute steht das Land am Rande des Bürgerkrieges.

1977 zog Sabine Kebir mit ihrem Ehemann, einem algerischen Regisseur, von Leipzig nach Algier. Sie arbeitete als Philosophiedozentin an den Universitäten von Oran und Algier. Ihr Buch ist zugleich Erlebnisbericht, historischer Essay und Dokumentation. Sie schildert den ganz normalen algerischen Alltag mit Wohnungsnot, Bürokratenfilz und sozialistischer Planwirtschaft, registriert sensibel und lebensklug die Widersprüche, Sorgen und Nöte um sie herum. Sie läßt die LeserInnen teilhaben an ihrem persönlichen Lernprozeß als Fremde und und als Frau, gibt auch die eigenen Vorurteile und Fehleinschätzungen zu. So hält sie ihre Schwägerin Rebiha, weil die im Ramadan fastet, zunächst für eine Islamistin. Später jedoch erfährt sie, daß Rebiha seit über 20 Jahren mit einer verbotenen laizistischen Partei sympathisiert. Ramadan wird so etwa vergleichbar mit dem hiesigen Weihnachten.

Sabine Kebir betrachtet den islamischen Kulturraum und damit auch Algerien nicht als unveränderlichen Monolithen. Sie verzichtet auf die Brille des Koran, und bezieht ihre Erkenntnisse über den rapiden sozialen Wandel und die Auswirkung der Modernisierung in Algerien vorwiegend aus der algerischen Sozialwissenschaft. Da geht es um die Folgen der überstürzten Arabisierungspolitik, um den tiefsitzenden sozialen, politischen und nicht zuletzt sexuellen Frust der algerischen Jugend, um das unterdrückte kulturelle Erbe der Berber, der Mozabiten, der Tuareg. Aktiv in der algerischen Frauenbewegung, hat Kebir die leidenschaftliche Debatte um das Frauen- und Familienrecht aus nächster Nähe mitverfolgt.

Aus all dem entsteht das Bild einer komplexen modernen Gesellschaft, die den westlichen LeserInnen plötzlich gar nicht mehr so fremd erscheint. „Die oft von Medien genährte Legende, daß es in islamischen Ländern viele fanatische Gläubige einerseits und wenige verwestlichte Atheisten andererseits gibt, muß begraben werden“, schreibt Kebir. Auch in Dritte-Welt-Ländern könne nur noch Selbstbestimmung – nach außen und nach innen – zur Lösung der Probleme führen.

„Nicht anders als bei uns ist Demokratisierung aber ein langwieriger, epochaler Prozeß, der auch Rückschläge erfährt. Wie die Linke werden auch die Anhänger eines monolithischen Islam begreifen müssen, daß nicht die sogenannte Einheit der Völker stark und schöpferisch macht, sondern die Anerkennung des Rechts auf Differenz und Autonomie.“ Und das heißt zuallererst: das Recht der AlgerierInnen auf eine eigene Moderne. Martina Sabra

Sabine Kebir: „Zwischen Traum und Alptraum – Algerische Erfahrungen“. Econ-Verlag, 320 Seiten, 39,80 DM