„Der Röhm war doch auch schwul“

■ Ein Gespräch mit dem 87jährigen Fotografen Albrecht Becker über Schwulsein vor und während der Nazizeit und anderes

Unter dem Titel „Bilder sind mein Leben“ zeigt das Schwule Museum bis zum 27.Februar die Lebensgeschichte von Albrecht Becker (geb. 1906). Fotografieren war für Becker das Mittel zur Kontaktaufnahme und Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Bilddokumente, die mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnen, Fotos seiner Familie, seiner Freunde und Liebhaber hat er so aufbewahrt. Allerdings fehlt auch ein Gutteil seiner Sammlung. Die Nazis vernichteten diese Dokumente eines freien Sexuallebens und verurteilten Albrecht Becker zu drei Jahren Gefängnis. Ausgezeichnet mit dem deutschen Bundesfilmpreis in Gold, arbeitete er nach dem Krieg gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Herbert Kirchhoff erfolgreich als Filmarchitekt.

taz: Herr Becker, Schwulsein 1923, wie sah das aus?

Albrecht Becker: Es hat bei mir sehr lange gedauert, bis ich überhaupt wußte, was schwul ist. Das Wort schwul wurde auch gar nicht gebraucht. Man sagte: der Mann ist so. Ich habe ein einziges Mal ein ganz grobes Wort gehört, als ich siebzehn Jahre alt war. Mein Vater sagte über einen Mann, den ich bei einem Stiftungsfest des Turnvereins kennengelernt habe, das sei ein Arschficker. Aber ich war nicht aufgeklärt, was homosexuell bedeutete.

Zu dieser Zeit haben Sie schon viel fotografiert?

Fotografiert habe ich schon mit zwölf Jahren. Sonst hat keiner in meiner Umgebung fotografiert. Mein Vater hatte einen Fotoapparat, der hieß Bergheil und war eine ganz normale Plattenkamera im Format 9 mal 12, damit habe ich angefangen zu fotografieren. Ich hatte eine kleine Dunkelkammer unterm Dachboden, habe die Platten entwickelt und Tageslichtkopien gemacht. Das gab dann so bräunliche Bilder. Später habe ich die erste Agfa Klick gekauft, das war 'ne Box, da konnte man gar nichts einstellen, man fotografierte mit 'ner 25stel Sekunde, das waren 6 mal 9 Bilder. Später habe ich mir eine Rollfilmkamera gekauft. Contessa Nettel aus Dresden, das war ein 4,5-mal-6- Apparat. Da die Bilder auch nicht vergrößert wurden, bekam man ganz kleine Bildchen. Bei der Leica dann mußte vergrößert werden, das war dann ganz natürlich.

Fotografieren und Erotik fiel für Sie zusammen?

Das war immer eine private Sache. Ich habe einmal am Sonntag in Horb bei Tübingen einen etwas älteren Herrn kennengelernt, 45 Jahre alt, ich war 18, der hat mich gefragt, ob er mich fotografieren dürfe. Ich hab' begeistert ja gesagt. Wir sind dann in ein Hotel gegangen, er hat uns eingetragen, mich als Sohn oder Neffe, jedenfalls waren wir in einem Zimmer, das war für mich selbstverständlich, daß das eine schwule Angelegenheit ist, und ich bin dann sofort zu dem Mann ins Bett gestiegen. Das war ganz selbstverständlich, wenn der dich schon fotografiert und begierig anschaut, dann weiß man Bescheid.

Daraus wurde dann eine richtige Freundschaft, wurden Sie ein Paar?

Ja, er hat mich dann nach Würzburg eingeladen. Später zog ich dorthin, mietete mir ein möbliertes Zimmer. Josef Friedrich Abert, so hieß mein Freund, hat mich dort in einer Textilfirma untergebracht, zuerst sollte ich Teppiche und Dekorationsstoffe verkaufen. Dann sagten die Chefs, lassen wir doch den kleinen Becker mal die Schaufenster machen. Otto Fuchs, der zehn Jahre älter war als ich, war ihr Dekorateur. Der hat mir das beigebracht. Er war homosexuell und hat mir nicht nur das beigebracht.

„Man hatte ein paar Freunde und einen intimen Freund“

Wie war das Leben in der Provinz als schwuler Mann?

Es war eigentlich eher unproblematisch. Meine Vermieterinnen wußten, daß ich schwul war, und die störte das gar nicht. Über sie habe ich auch Leute kennengelernt und bin in den Sportverein gekommen. Abert, mein Freund, war ein bekannter und angesehener Mann in Würzburg, er hatte als Archivar beim Grafen Schönborn gearbeitet, später wurde er Professor und Chef des Bayerischen Staatsarchivs. Er war aus sehr katholischen Verhältnissen, sein Onkel war Erzbischof von Bamberg 1912 bis 1920. Im Prinzip hatte man ein paar Freunde und einen intimen Freund. Würzburg war eine Kleinstadt. Abends nach Geschäftsschluß gingen die jungen Leute auf den Bummel. Man lief dann die Hauptstraße rauf und runter, da waren natürlich auch Schwule drunter.

Sie hatten einen sehr modernen, eher weitläufigen Lebensstil, sind viel gereist. Das war für einen jungen Mann in Ihrer Stellung eher ungewöhnlich?

Ich habe immer Geld gehabt, ich war relativ gut bezahlt. Meine Mutter schickte mir Pakete, und da war immer ein bißchen Geld drin, so zwanzig, dreißig Mark. Für zwanzig Mark konnte man sich ein Paar Schuhe kaufen, das wären heute rund 200 Mark. So konnte ich reisen. Das Geschäft, in dem ich arbeitete, dort sollten die Schaufenster vergrößert und das Haus umgebaut werden, und ich bekam ein Vierteljahr frei. Das war ein Jahr vorher bekannt, und ich habe tausend Mark gespart. Das war viel Geld. Etwa 15.000 Mark heute, die ich hatte. Ich bin dann nach Spanien gereist.

Sie haben auf Ihren Reisen Bekanntschaften gemacht, die sich zu lang dauernden Freundschaften entwickelten?

Ja, es sind Lebensfreundschaften geworden. Ich bin ein sehr treuer Mann. Der Bruder meines Tanzlehrers in Würzburg lebt heute als Bankmann in Barcelona. Er hat mich nach Spanien eingeladen. Wir furen dann nach Mallorca. Dort habe ich zwei Engländer kennengelernt, das waren schwule Freunde, sie hatten kein Verhältnis miteinander. Und erst bin ich mit dem einen ins Bett gegangen, und der andere durfte das nicht wissen, und dann mit dem anderen. Sie haben mich fürs nächste Jahr nach England eingeladen, 1927. Das waren die glücklichen zwanziger Jahre, in Nordengland gab es blaue Stunde und den blauen Raum, alles was blau und verträumt war, gab es. Das war eine sehr glückliche Zeit in meinem Leben. Meine erste Reise machte ich 1925 nach Venedig und Florenz. Am Lido waren drei Amerikaner, das sind die auf dem Plakat zur Ausstellung. Einer war Jurastudent, Vandiver Brown, der war gerade fertig mit seinem Studium und machte die übliche Europatour. Er lud mich ein, zu sich ins Hotel zu ziehen. Ich hab' heute noch ein Lexikon, in dem auf deutsch drinsteht: Ich liebe Dich.

Sie haben ihn dann 1934 in New York besucht?

Nein, wir haben uns schon im Herbst 1926 in Paris getroffen. Meine Chefs waren sehr großzügig, weil sie sagten, wenn er nach Paris geht, dann sieht er sich dort die Schaufenster an, davon profitieren wir. Ich hab' da in Paris Maurice Chevalier gesehen, Josephine Baker, alle die berühmten Leute der zwanziger Jahre. 1934 hat mich Vandiver nach New York eingeladen. Ich kannte auch einen jungen Tänzer, Eric Hawkins, mit ihm bin ich ein bißchen entlang der Ostküste rumgefahren. Hawkins hat später Martha Graham geheiratet.

Als Sie zurückkamen, wurden Sie kurz darauf festgenommen. Sie hatten die veränderte Situation nach 1933 gar nicht richtig wahrgenommen?

Nein, auch meine Freunde nicht. Die hätten mich sonst dabehalten. 1933, das war für uns kein wahrnehmbarer Bruch, Homosexuelle wurden nicht verfolgt. Der Röhm war schwul, und man hatte den Eindruck, das war geduldet. Jeder hat sich ausgelebt. Man hat sich nicht besonders vorgesehen. Am 5. Januar 1935 wurde ich zur Kriminalpolizei geholt, und mir wurde gesagt, Sie sind doch ein homosexueller Mann. Und ich hab' gesagt, natürlich bin ich das. Ich habe nie etwas abgestritten. Andere, die das taten, kamen davon.

„Das glaubt mir kein Mensch, daß ich so angepaßt war“

Sie wußten nicht, wie Sie sich in einer solchen Situation verhalten sollten? Man hat in Ihren Freundeskreisen nie darüber gesprochen? Daß Abstreiten unter Umständen erfolgreich war?

Das habe ich erst jetzt erfahren, aus den Akten, die auch im Katalog abgedruckt sind. Ich bin völlig naiv in diese Situation hineingestolpert.

Und saßen dann drei Jahre im Gefängnis, nicht im KZ?

Ich war immer im Gefängnis. Nein, die Zeit in der Zelle, ich habe mich dort, fast hätte ich gesagt, wohlgefühlt. Es war ein sehr sauberer Raum. Ich habe immer eine dolle, gutaussehende Zelle gehabt. Deshalb war ich der Musterknabe in dem Gefängnis. Immer wenn neue Leute reinkamen, wurde ihnen meine Zelle als Beispiel vorgeführt. Also, wenn ich das erzähle, das glaubt mir kein Mensch, daß ich so angepaßt war. Ich habe niemals etwas abgeleugnet. Ich hatte das Gefühl, die haben mich zu Recht eingesperrt, weil ich ja eben ein Rechtsbrecher war. Das klingt idealistisch, fast masochistisch. Wozu ich eine Neigung habe, das hat sich später herausgestellt. Daß ich Schmerzen erduldet habe, die ganz unnötig waren. Das erste halbe Jahr war ich sehr geschockt, sehr zurückhaltend, sehr zerknirscht. Wahrscheinlich auch sehr beeinflußt von einem SS-Mann. Ein sehr schicker Mann, der nicht in Uniform auftrat und mich wirklich zuvorkommend behandelt hat. Das war ein sehr gut aussehender Mann, und ich glaube, ich habe ihn fast verehrt, weil er so doll aussah. Ich habe es ihm sehr leicht gemacht, und habe ihm vielleicht mehr als notwendig erzählt. Es ist merkwürdig, wie Schönheit und Erotik und Leiden, wie sich das vermischen kann.

Hat Sie diese Gefängniszeit, wie man heute sagt, politisiert?

Nein. Das hat gar keinen Einfluß gehabt. Die Zelle war ein Lebensraum, das Fenster war zwar hoch, und man konnte nichts sehen außer dem blauen Himmel und einen Birnbaum. In der Nähe war ein Blechdach, das trommelte, wenn es regnete, und das war meine Welt.

Aber die Gefängniszeit hat schon etwas hinterlassen?

Ja, Sie meinen das Tätowieren. Aber das war ein ewiger Wunsch von mir gewesen. Als Junge schon habe ich Arbeiter auf der Straße gesehen im Sommer, und die waren tätowiert, da stand „Frisch, fromm, fröhlich, frei“ auf ihren Körpern. Das hat mich wahnsinnig interessiert. Und im Krieg war ich als Funker in der Nähe von Stalingrad, und kein Mensch wußte, kommst du raus oder nicht, da kamen Wiener Arbeiter als Soldaten, die waren tätowiert, und von denen hab' ich mir sagen lassen, wie man das macht. Das hat funktioniert. Als es abgeheilt war, nach acht Tagen, hab' ich schon einen Schock gehabt, als ich das sah. Jetzt bist du gezeichnet. Jetzt bist du ein Outcast. Am Anfang war das nur ein Versuch, dieser Lebenswunsch hat sich dann verselbständigt, ich habe meine masochistischen Neigungen gepflegt und auch ausufern lassen.

Diese Neigung ist also älter als Ihre Gefängniszeit. Sie sehen da keinen Zusammenhang?

Ich weiß, daß ich es schon einmal versucht habe, mich zu tätowieren. Die sexuelle, pornographische Seite spielt da eben eine Rolle. Aber was ich jetzt hier treibe, mit dieser Ausstellung, das ist verrückt, daß plötzlich alles, was früher verdammt war, jetzt interessant ist. Die Leute sind sehr brav und hören mir geduldig zu. Ich bin so alt, daß ich darüber reden kann. Vor zwanzig Jahren hätte ich das sicher nicht gekonnt. Heute kann ich über alles reden.

„Der kleine Becker sieht ja gar nicht so dumm aus, wie er ist“

Sie haben sich meist ältere und gebildete Freunde und Liebhaber ausgesucht?

Das hat schon in meiner Schulzeit angefangen. Ich wurde nach der Volksschule in die Oberrealschule geschickt wie meine Brüder. Nach einem Vierteljahr hat der Lehrer zu meiner Tante gesagt, der Junge ist noch nicht so weit, nehmen Sie den noch mal zurück. Dann bin ich wieder zurückgegangen, auf eine Art Mittelschule – man lernte dort fünf Jahre Französisch und zwei Jahre Englisch. Als ich da hinkam, hörte ich, wie ein Lehrer zum anderen sagte: Das ist der kleine Becker, der sieht ja gar nicht so dumm aus, wie er ist. Das war die Quelle von Minderwertigkeitsgefühlen, die mir die Hälfte meines Lebens versaut haben. Ich habe mich immer als zweiter Mann gefühlt und habe auch den zweiten Mann gespielt bis 1988. Bei Professor Aberts war ich sowieso der Eleve, der Schüler. Für meine spanische Reise hat er mir 20 Bücher aus der Universitätsbibliothek mitgebracht.

Was war 1988?

1988 ist Herbert Kirchhoff gestorben. Mit ihm habe ich vierzig Jahre zusammengearbeitet. Am Anfang war es ein kleines erotisches Abenteuer. Wir wurden dann ein Team, das sehr glücklich 15 Jahre lang zusammengearbeitet hat, solange es den Film gab. Dann kam das Fernsehen. Er hat die anspruchsvollen Sachen weitergemacht. Etwa mit Egon Monk Galileo Galilei. Und ich habe Kriminalsachen mit Jürgen Roland gemacht. Wolfgang Menge hat die Drehbücher dazu geschrieben. Da vorne ist das goldene Filmband, das ich zweimal bekommen habe, zusammen mit meinem Kollegen. Ich sage zwar immer, er hat es gekriegt, und ich bin der Trittbrettfahrer, aber ich glaube, daß wir uns auch gegenseitig beeinflußt haben, daß nicht nur der Herbert Kirchhoff das Genie war. Interview: Brigitte Werneburg