Bunte Stilmischung aus 130 Jahren

Das Rote Rathaus, die Repräsentation und die Gemütlichkeit / Am 1. Oktober 1991 zog der Regierende Bürgermeister in den Sitz des Magistrats, der Umbau ist noch lange nicht beendet  ■ Von Robert Frank

Wann sind Sie das letzte Mal umgezogen? Wie oft stellen Sie Ihre Möbel um? Sind Sie vielleicht mit Stilmöbeln oder mit Erbstücken eingerichtet? Verändern Sie sich – etwa nach Orts- oder Partnerwechsel – peu à peu, oder krempeln Sie dann alles auf einmal um? Beschäftigen Sie dann den Dekorateur eines Möbelhauses oder gar einen Architekten? Das sind viele Fragen auf einmal, zugegeben, aber sie gehen doch alle an: Stellen Sie sich vor, Sie wären Bürgermeister, und das ganze Rathaus sollte umziehen!

Gerade das ist 1990 passiert, als Walter Momper innerhalb von sechs Wochen vom Schöneberger ins Rote Rathaus ziehen wollte, in das freigewordene Erbstück des Ostberliner Magistrats, das derzeit komplett mit Stilmöbeln, also mit einer Einrichtung im Stil der fünfziger Jahre, ausgestattet war.

Das Rote Rathaus, „rot“ genannt wegen seiner dunkelroten Backsteine und Terrakottaplatten, entstand 1861–69 nach Plänen des Bauinspektors Hermann Friedrich Waesemann. 1950 beschloß die Stadtverordnetenversammlung, den originalgetreuen Wiederaufbau der halbzerstörten Fassaden, die innere Ausstattung entwarf Fritz Meinhardt ganz modern, also in der DDR-Stilrichtung der fünfziger Jahre. Vor 38 Jahren, am 30. November 1955, überreichte der Maureraktivist Max Köper den Schlüssel für das wieder neue Rathaus an Oberbürgermeister Friedrich Ebert.

„Rotes Rathaus * Bauherr: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, vertreten durch den Senator für Bauen und Wohnen“, so steht es heute auf dem Bauschild. „Jetzt machen wir daraus ein modernes Rathaus“, hieß es beim Bausenator, als der Umzug beschlossene Sache war (und die Ansprüche aus dem jahrelang aus- und umgebauten Schöneberger Rathaus nun auf das Rote Rathaus übertragen werden sollten). „Nicht doch“, sagte da der wieder neue Architekt, der denkmalkundige Helge Pitz, „ein kompletter Umbau ist zu teuer, dauert viel zu lange, und überhaupt ist dieses Rathaus ja nicht nur Baudenkmal der 1860er, sondern auch der hier durchaus denkmalwürdigen 1950er Jahre.“

Der Streit um den Baustil des Hauses ist schon 130 Jahre alt, und die bunte Stilmischung wurde in „Berlin und seine Bauten“ von 1877 so beschrieben: „In künstlerischer Beziehung gehört das Rathaus zu den von der Berliner Schule unternommenen Versuchen einer Vermittlung zwischen den Traditionen antiker und mittelalterlicher Baukunst...“. So sehen wir also heute die Mischung aus einem Kastell (mit Ecktürmen und dem Kranz von Pechnasen) und einem norditalienischen Renaissance-Palazzo, darüber den Uhrturm mit etwas Frühgotik (von der Kathedrale im nordfranzösischen Laon). Ein zeitgenössischer Kritiker schrieb dazu: „Bei dem Rathaus ergibt sich aus jener Mischung eine charakterlose Halbheit..., und in dem Thurmbau erreicht die Charakterlosigkeit ihren Gipfel.“ Wir erkennen hier, daß ein Bauwerk oft ungeachtet aller Architekturkritik zum Denkmal wird, geriet doch der Rathausturm längst zu einem Wahrzeichen der Stadt, und die epochale Mixtur dieses Hauses erhält auch in unseren Tagen weitere Zutaten.

1955 wurde das Rote Rathaus nicht nur schlüsselfertig, sondern auch einheitlich eingerichtet übergeben, wie mehr als 1.000 Ausführungszeichnungen und Möbelentwürfe zeigten. 1990 hieß also die Schlußfolgerung des vom Bausenator beauftragten Architekten: Wir stellen die Arbeitsfähigkeit mit angemessenem Aufwand her, indem wir die qualitätvolle Ausstattung der fünfziger Jahre so weit wie möglich erhalten und notwendige Ergänzungen – deutlich erkennbar – hinzufügen. Vor allem Erschließung und Installation des Hauses mußten verbessert werden. Anders als beim Neubau begann der eilige Ausbau ganz oben, im 3. Obergeschoß. Am 1. Oktober 1991 übergab Bausenator Wolfgang Nagel den Hausschlüssel aufs neue an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen.

Dann konnte Luft geholt und grundlegender geplant und gebaut werden. Jetzt wurden, zum Beispiel, die Türme I und II für die Aufzüge und Nottreppen – wie Raketenbasen – vor die alten Mauern in die Höfe gesetzt. Die Türme III und IV werden folgen. „Nun macht mal, Ihr seid doch Fachleute“, sprach der Regierende Bürgermeister zu den planenden Architekten, und die entwarfen nun für seine Amtsräume Möbel im Stil der Neunziger. „Es ist nicht gemütlich genug“, stellte Eberhard Diepgen nach einem Jahr fest, wechselte die Garnitur aus und ließ Perserteppiche verlegen. Kürzlich wurde weiterer Unmut laut, ausgerechnet vor dem „Waesemann- Saal“. Zur dringend notwendigen Verbesserung der Akustik war hier ein filigranes Glasgewölbe über den Konferenztisch gehängt worden. Vor diesem Konferenzsaal, wo ein weitläufiges, überkuppeltes Vestibül die Kreuzung zwischen Saaleingang, Fensterfront und Rathausfluren bildet, hatten die Architekten einmal ihr Licht nicht unter den denkmalpflegerischen Scheffel gestellt, sondern ihre Zurückhaltung aufgegeben und im drögen Fünfziger-Jahre- Monument den lustigsten, farbigsten Platz geschaffen: Lindgrüne Stahlträger halten hier einen abgespannten, schwarz gerandeten Stahlring als erfrischende Zutat unserer Zeit in der Schwebe, doch der signalrote senkrechte Spannstab im Zentrum der großen, kunstvollen Scheibe war da anscheinend zum bohrenden Pfahl im Fleisch der rathäuslichen Gemütlichkeit geworden. Zwar ist die Akustik unter diesem Saturnring nun ausgezeichnet, aber als der Chef der Senatskanzlei hier bei der übergabe von „Eigenmächtigkeit der Bauverwaltung“ und mangelndem Demokratieverständnis sprach, war offensichtlich die Harmonie gestört. Doch wie Demokratie, die Herrschaft des Berliner Volkes, beim Rathausbau herzustellen sei, das ist jetzt die Frage.

Gerade so, wie sich in jeder Wohnung private Gemütlichkeit und offizielle Gastlichkeit vor allem im Wohnraum überschneiden, sollte auch im Rathaus der öffentliche Charakter in den Sälen des 1. Obergeschosses, des „Piano nobile“, mehr und mehr Gestalt gewinnen. Das Rote Rathaus repräsentiert ja weniger die jeweils auf Zeit gewählten Repräsentanten des Volkes als vielmehr Berlin und seine Bürger. Gerade bei den restlichen 15 Prozent des Ausbaus geht es jetzt um Entree und Festräume, gleichsam um Korridor und gute Stube der Stadt: um die monumentale Eingangshalle, den Säulensaal, die Vorhalle, den Wappensaal und den Großen Festsaal. Finden Sie nicht auch, daß besonders diese „gute Stube“ der Stadt eine öffentliche Sache, eine „res publica“ ist, also mehr eine Sache der Stadtpolitik als der Inneneinrichtung? Doch gerade hier fordert nun Eberhard Diepgen, der – diensteifrig, wie er ist – bisher kaum Zeit hatte, sein Kunstverständnis auszubilden, einen entscheidenden Einfluß auf die abschließende Planung. Dem Mann muß geholfen werden.

Der Regierende Bürgermeister kann viel Zeit und Geld sparen, wenn er sich – statt auf dem beschwerlichen Dienstweg (Rathausstufen runter, Senatsbauverwaltung etagenweise rauf und wieder retour) – gleich im Rathaus öffentlich mit den Architekten auseinandersetzen würde. Bis zum Februar sind alle Entscheidungen für die Ausschreibung der restlichen Bauarbeiten zu treffen. Insgesamt waren 76 Millionen Mark für den Umbau veranschlagt, die geschätzte Restsumme beträgt noch rund 12 Millionen Mark. Der kurze Weg zum guten Ende heißt: Bauherrschaften und Bauleute an einen Tisch!

Der Autor ist Architekt und freier Journalist in Berlin.