Wenn einem Weihnachtsmann wilde Truthähne erscheinen Von Ralf Sotscheck

Brian war seit Weihnachten verschwunden und tauchte erst Silvester wieder in Dublin auf. Er sah hundsmiserabel aus. „Ich habe Weihnachten bei meinen Eltern im Westen verbracht“, erklärte er. Seine Eltern wohnen in einem kleinen Dorf an der irischen Westküste. „Sie haben mich überredet, mich für die Nachbarsgören als Weihnachtsmann zu verkleiden, weil die mich nicht erkennen würden“, stöhnte Brian. „Am Anfang ging auch alles gut. Aber in jedem verdammten Haus mußte ich einen doppelten Whiskey trinken und eine Handvoll Karotten in die Manteltasche stecken – für Rudolf, das dusselige Rentier, das ich angeblich im Wald geparkt hatte.“ Es kam, wie es kommen mußte: „Nach dem zwölften Haus war mir so elend, daß ich mich auf eine Steinmauer legte und die Eingeweide rauskotzte.“ Es war die Kirchenmauer. Zu allem Überfluß war gerade die Mittagsmesse vorbei. „Zuerst herrschte betretenes Schweigen, dann fragte ein kleines Mädchen, warum der Weihnachtsmann mit knallrotem Kopf über der Kirchenmauer hing“, sagte Brian. „Inzwischen war der Pfaffe aus der Kirche gekommen, zog mich am Kragen hoch und versetzte mir einen versteckten Tritt vors Schienbein. Dann erklärte er den Kindern, daß ich nur die Karotten für Rudolf aufsammeln wollte, die mir aus der Tasche gekullert waren. Die Gören rissen sich darum, mir zu helfen, und steckten mir die vollgekotzten Möhrchen in die Manteltasche.“

Der Pfarrer machte Brian dann unmißverständlich klar, daß es an der Zeit sei, das Rentier im Wald zu füttern. „Ich bin dann in Richtung Wald getorkelt und wollte mich gerade in die Büsche schlagen, um in Ruhe weiterzureihern, als ein Truthahn auf mich losging. Ich führte das natürlich auf den Whiskey zurück und setzte mich erst mal unter einen Baum. Plötzlich sauste ein zweiter Truthahn wie ein geölter Blitz über die Lichtung, flog hoch in den Baum und blieb dann wie ein Geier in einer Astgabel sitzen. Dann bin ich wohl eingeschlafen.“ Brian wachte erst am Abend wieder auf und schleppte sich schwer erkältet nach Hause. Das Truthahnessen war längst vorbei, aber von Geflügel hatte er ohnehin die Nase voll.

Später erklärte ihm der Pfarrer, daß der rasende Puter durchaus real war. Vor fünf Jahren hatte ein Bauer nämlich mehrere wilde Truthähne aus den USA importiert und sie in dem Wald bei Cratloe in der Grafschaft Clare ausgesetzt. Er wollte sie später als Weihnachtsbraten verkaufen, weil sie nicht so fade schmecken wie ihre gemästeten Artgenossen. Zunächst funktionierte das Experiment: Die Tiere fühlten sich in Irland offensichtlich wohl und vermehrten sich rasant. Allerdings paßten sie sich so gut an ihre Umwelt an, daß sie nicht mehr einzufangen waren: Sie sind schnell wie Kaninchen und verstecken sich nachts auf Bäumen, damit sie vor den Füchsen sicher sind. Bisher konnte erst ein einziger Truthahn erlegt werden. Die anderen hatten dagegen allen Grund, ausgelassen Weihnachten zu feiern. Die wilden US-Turkeys haben sich inzwischen bis in die Nachbargrafschaft Limerick ausgebreitet. Einige nisten dort bereits auf Hausdächern. Droht Irland eine Truthahnplage?

„Nächstes Weihnachten fliege ich nach Rom und fresse eine Woche lang Pizza“, meinte der immer noch blasse Brian. „Aber streng vegetarisch.“