Steven Spielberg und das Eislaufwunder

Ein vorwitziger Rückblick auf das turbulente und außerordentlich spektakuläre Sportjahr 1994  ■ Von Matti Lieske

Melbourne, 17. Januar: Michael Stich erklärt, daß er in diesem Jahr keinen Davis-Cup spielen werde. „Ich weiß nicht, warum“, sagt er zur Begründung, „aber ich spüre den unerklärlichen Drang in mir, in diesem Jahr die Nummer eins und Vater zu werden.“

Bradenton, 12. Februar: Erster Trainingstag von Boris Becker in der Tennisakademie von Nick Bollettieri. „Endlich ein harter Hund, wie ich ihn brauche, und ein echter Freund“, lobt der frischgebackene Vater seinen neuen Coach. Andre Agassi, Ex-Zögling Bollettieris, ist skeptisch: „Wenn er es länger als drei Tage aushält, zahl' ich ihm eine neue Frisur.“

Lillehammer, 14. Februar: Skandal bei der Faschingsparty der deutschen Olympiamannschaft. Der Türsteher verwehrt dem Rodler Georg Hackl den Zutritt zum Saal, weil er ohne Kostüm erschienen ist. Alle Beteuerungen Hackls, er sei doch verkleidet, und zwar als Weißwurst, bleiben vergebens. „Sie sehen aus wie immer“, wird ihm unmißverständlich beschieden.

Bradenton, 15. Februar: Gegen Mitternacht durchschneidet Boris Becker den Stacheldraht der Bollettieri-Tennisakademie, robbt durch das Minenfeld und meldet sich bei der nächsten Polizeistreife mit den Worten: „Ich heiße Becker, bin Vater eines Babys und habe gerade meinen Trainer erschlagen.“ Das mit dem Strammstehen und dem Küchendienst sei ja nicht so schlimm gewesen, aber „die Sache mit der beidhändigen Rückhand war zu viel“. Nach zehn Stunden sei er durchgedreht, habe Bollettieri zu Boden gestreckt – „mit einer beidhändigen Vorhand“ – und das Weite gesucht. Sofortige Nachforschungen ergeben, daß Nick Bollettieri wohlauf ist („Die Seles hat härter zugeschlagen“) und die Sache nicht weiter krummnimmt: „Respekt, Respekt. Die meisten geben schneller auf.“

Hamar, 25. Februar: In überzeugender Manier wird Katarina Witt Olympiasiegerin im Eiskunstlaufen.

Am Ende ihrer mitreißenden Kür liegen sich sämtliche Zuschauerinnen und Zuschauer im Amphitheater von Hamar schluchzend in den Armen, Ströme von Tränen machen das Eis auf Stunden unbrauchbar.

Besonders aufsehenerregend die plötzliche Sprunggewalt der 28jährigen, die die Preisrichter diesmal nicht nur mit ihrer garbohaften Ausstrahlung, sondern auch mit drei Fünffach-Sprüngen und dem sechsfachen Rittberger überzeugt. 16mal wird die Traumnote 6 gezückt, nur die ostdeutsche Preisrichterin gibt eine 3,6 in der A- und eine 3,8 in der B-Note, was inmitten der Ovationen zunächst völlig untergeht. Erst später fällt einem Funktionär auf, daß es eine ostdeutsche Preisrichterin eigentlich gar nicht mehr geben dürfte und tatsächlich entpuppt sich diese nach kurzem Kampf als Mutter der Bronzemedaillengewinnerin Surya Bonaly.

New York, 28. Februar: Marc-Kevin Goellner erklärt, daß er künftig nur im Davis-Cup antreten werde, wenn sein Trainer Andreas Maurer mit ihm Doppel spielen dürfe. Der Deutsche Tennis Bund (DTB) gibt bekannt, daß er sich keinesfalls auf solch infame Art erpressen lasse und stimmt zu.

Stuttgart, 10. März: Das Stuttgarter Publikum geht auf seine mit Spannung erwartete Welttournee. Zuerst werden die 70.000 Schwaben vom 15. bis 20. März bei der Biathlon-WM in Canmore/Kanada erwartet, dann geht es Anfang April zum Dressur-Weltcup nach Göteborg und schließlich weiter zum Drachenbootrennen in Shanghai, wo die chinesische Uraufführung der Ola stattfinden soll. Im Juli wird das Stuttgarter Publikum dann bei der Fußball-Weltmeisterschaft in den USA anwesend sein, um die freien Plätze der verschiedenen WM-Stadien zu infiltrieren und den Eingeborenen fachkundige Kommentare wie „Säckl“, „Da glotschst“ oder „Ha“ beizubringen.

Graz, 20. März: Marc-Kevin Goellner verkündet seinen Rücktritt aus dem Davis-Cup-Team, nachdem Boris Becker seinen neuen Trainer vorgestellt hat: Andreas Maurer. Becker erklärt sich bereit, für Goellner einzuspringen, allerdings nur, wenn seine Frau gemeinsam mit dem Baby die Nationalhymne rappen dürfe. Außerdem müsse Niki Pilic mit Goellner und dessen beiden Physiotherapeutinnen nach Sarajevo verbannt werden, dafür solle dann Maurer Teamchef werden. Der DTB verwahrt sich gegen derartige Erpressungen und stimmt zu.

Stuttgart, 22. März: Aus Protest gegen die leeren Ränge im Neckarstadion beim Länderspiel gegen Italien (0:0) treten die deutschen Fußball-Nationalspieler in der ersten Halbzeit in einen 45minütigen Bummelstreik. Niemand merkt es, nicht einmal Bundestrainer Berti Vogts, der in der Pressekonferenz ausdrücklich „das beherzte Spiel nach vorn, vor allem in der ersten Spielhälfte“ lobt. Empört treten die Spieler in einen Hungerstreik, den DFB-Präsident Egidius Braun nach zwanzig Minuten mit einer Tüte Gummibärchen beendet.

Graz, 26. März: Beim Stande von 1:1 der Davis-Cup-Partie gegen Österreich wird das Doppel Maurer/Becker kurz nach Beginn des ersten Satzes wegen unerlaubten Coachens während eines Ballwechsels disqualifiziert. Becker erklärt seinen Rücktritt aus dem Davis-Cup-Team. Ersatzspieler Bernd Karbacher muß beide verbliebenen Einzel bestreiten.

Graz, 27. März: Bernd Karbacher gewinnt seine beide Einzel gegen Horst Skoff und Thomas Muster und tritt aus dem Davis-Cup-Team zurück, „weil ich alles erreicht habe, was ich im Davis-Cup erreichen kann“.

Los Angeles, 4. April: Auf einer spektakulären Pressekonferenz in Beverly Hills gibt Katarina Witt bekannt, daß sie gar nicht in Norwegen war. Ihre Kür sei wie überhaupt ihr gesamtes Comeback eine von Steven Spielberg in Szene gesetzte Computer-Simulation gewesen. Kommentar der WM-Zweitplazierten Ukrainerin Oksana Bajul: „Ich hatte gleich so ein komisches Gefühl, als ich ihr bei der Siegerehrung die Hand geschüttelt habe.“

München, 25. April: Nachdem Lothar Matthäus an einem Tag einen japanischen Touristen, der ihn fotografieren wollte („Fuji, Schlitzauge, Fuji“), einen Damen-Kegelclub aus Oberwiesenthal („...“) und einen Weißwurstverkäufer auf dem Viktualienmarkt („Die sehen ja aus wie Georg Hackl“) beleidigt hat, entschließt sich Bayern München, ihn an Real Madrid zu verkaufen. Real-Präsident Mendoza stimmt dem Transfer unter Vorbehalt zu: „Nur wenn er schwört, kein Spanisch zu lernen.“

Augusta, 10. April: Sensationell gewinnt Michael Jordan das Masters- Turnier der Profi-Golfer. Besonders beeindruckend seine letzte Runde mit einem Eagle am dritten, einem Albatros am 12. und einem Slam-Dunk am 18. Loch.

Karl-Marx-Stadt, 15. April: Ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, der sich als „IM E.T.“ bezeichnet, behauptet, daß es sich bei Katarina Witt, ebenso wie bei Erich Honecker, schon immer um eine Computer-Simulation gehandelt habe.

Inzwischen frage er sich sogar, ob nicht die ganze DDR eine einzige von der Stasi in Auftrag gegebene Computer-Simulation gewesen sei. „Gewisse Parallelen zur Muppet-Show deuten eindeutig darauf hin.“

Steven Spielberg gibt zu, die Fälle Witt und Honecker auf dem Kerbholz zu haben, streitet aber jegliche Verantwortung für weitergehende Dinge mit dem Hinweis ab: „Fragen Sie Helmut Kohl.“ Der Kanzler bricht nach einem scharfen fünfminütigen Kreuzverhör durch Ernst-Dieter Lueg und Friedrich Nowottny zusammen: „Ja, es stimmt. Ich bin ein Virus.“

Hannover, 28. Mai: Vor dem Länderspiel gegen Irland verkündet Berti Vogts, daß er an Lothar Matthäus als Kapitän und als Libero festhalten werde, komme was da wolle. Er habe sich sogar ein neues System ausgedacht, um die offensiven Fähigkeiten des Madrilenen besser zur Geltung zu bringen: „Sobald er die Mittellinie überschreitet, ziehen sich alle anderen Spieler in den eigenen Strafraum zurück, um ihm die nötige Sicherheit nach hinten zu geben. Dann kann er seine Dynamik voll zur Geltung bringen.“ Kommentar von Franz Beckenbauer: „Wenn Not am Mann ist, laß' ich mich überreden.“

Salzburg, 4. Juni: Michael Stich erklärt sich bereit, im Davis-Cup- Viertelfinale gegen Italien zu spielen, wenn seine Frau Jessica Teamchefin wird. Der DTB verzichtet darauf, sich gegen jegliche Erpressung zu verwahren, und stimmt zu.

Chicago, 16. Juni: Einen Tag vor dem Eröffnungsspiel der WM gegen Bolivien erklärt Lothar Matthäus seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft, nachdem eine große Boulevardzeitung eine Äußerung von Berti Vogts bei der Betrachtung von Lolita Morenas neuer TV-Show publik gemacht hat: „Das kann ja mein Dackel besser.“

Chicago, 17. Juni: Kurz vor Beginn des Eröffnungsspieles präsentiert Berti Vogts seinen neuen Libero: Franz Beckenbauer. „Ja, ich weiß auch nicht, wie's genau gekommen ist“, sagt der Kitzbüheler, der die Chance hat, bei diesem Turnier Lothar Matthäus als Rekord-Nationalspieler zu überholen. „Gewollt habe ich eigentlich nicht. Aber der Berti hat halt gefragt und auf einmal habe ich ja gesagt.“

Ärmelkanal, 7. Juli: Auf dem Weg zu den beiden England-Etappen der Tour de France fährt das Feld am Vormittag in den im Mai eingeweihten Ärmelkanal-Tunnel ein. Als nach sechs Stunden noch kein Radprofi in England eingetroffen ist, wird eine Suchaktion gestartet. Nachforschungen von Scotland Yard ergeben, daß das Peloton die falsche Röhre erwischt hat und unterwegs dem 10-Uhr-Zug von London nach Paris begegnet ist.

Dortmund, 15. Juli: David Prinosil, der zusammen mit Michael Stich das Davis-Cup-Viertelfinale gegen Italien bestreitet, gewinnt das erste Match gegen Omar Camporese und flüstert danach vor 12.375 Zuschauern ins Mikrofon: „Jessica, ich liebe dich.“ Stich erklärt seinen Rücktritt vom Davis-Cup.

Los Angeles, 17. Juli: 5. Minute des WM-Finales Argentinien – Deutschland: an der Mittellinie kommt es zu einem Laufduell zwischen Diego Maradona und Franz Beckenbauer.

7. Minute: Diego Maradona geht leicht in Führung, doch Beckenbauer bleibt dran. 9. Minute: Zentimeter um Zentimeter kämpft sich der deutsche Libero an den argentinischen Kapitän heran. 11. Minute: CBS blendet Werbung ein. 12. Minute: Maradona hat den Ball fast erreicht, Beckenbauer setzt zur Grätsche an. 13. Minute: Im letzten Moment handeln die Trainer. Beckenbauer und Maradona werden ausgewechselt und gemeinsam ins Sauerstoffzelt transportiert.

Helsinki, 13. August: Katrin Krabbe, die ihr Startrecht für die Leichtathletik-Europameisterschaft vor einem Zivilgericht erstritten hat, gewinnt überlegen den 10.000-Meter-Lauf, nachdem sie sich im chinesischen Höhenlager Chen Gong drei Wochen lang intensiv auf Helsinki vorbereitet hat. „Hartes Training, jede Menge Mao-Sprüche“, antwortet sie auf die Frage nach ihrem Erfolgsgeheimnis, „und jeden Morgen eine Schüssel Schildkrötenblut. Das ist gut für mein Asthma.“ Grit Breuer, Siegerin des Marathonlaufes, ergänzt: „Die Meinung unter den Kadern, man könne ohne eigenen harten Kampf, ohne Blut und Schweiß, lediglich durch Zufall und Glück siegen, muß hinweggefegt werden.“

Kommentar von Doping-Fahnder Donike nach dem Bluttest: „Die schnellsten Schildkröten der Welt.“