Lieber Eisbein

Helga Königsdorf setzt ihren Romanhelden — igitt! – fremdländische Früchte vor  ■ Von Marko Martin

Wer ein neues Buch von Christa Wolf über Sauerampfersuppen und die Schönheit mecklenburgischer Bauernbrote vermißte, wer sich mit dem mordgeilen Westmonster in Christoph Heins jüngstem Roman nicht anfreunden konnte, darf sich jetzt an Helga Königsdorfs literarischer Wortmeldung zur Gegenwart freuen. „Niemand konnte sich erinnern, die Farben der Blumen und der Schmetterlinge je so strahlend erlebt zu haben. Das Gelb des Löwenzahns hatte bereits im April die Rasenflächen in leuchtende Teppiche verwandelt. Die Sonne schien tagein, tagaus. Wie immer war die Liebe zum ersten Mal, und die Lustbarkeit des Sommers zog sich bis in den letzten Winkel der Stadt. Kinder wurden geboren. Sie hießen Sabrina oder Felix. Die Menschen trugen bunte Kleider und wendeten ihre Gesichter zum Licht. Keiner ahnte, was die Zukunft bringen würde. Aber die Zeit lief. Sie lief schneller und schneller.“

Eine volkstümliche Idylle mit Knacks: Schon die Namen Sabrina und Felix scheinen darauf hinzudeuten, daß nun auch in der ostdeutsch-byzantinischen Nische die römisch akzentuierte Zivilisation eingebrochen ist, von der wir seit Herder wissen, daß sie der Feind urwüchsiger, organischer Völker ist. Vor allem macht sie den „Mietern der Eckwohnung im siebenten Stock des Hauses Paul-Meschkewitz-Straße dreiundachtzig, irgendwo im Osten der Stadt“, mächtig zu schaffen. Diese „wälzten sich nachts schlaflos auf ihren Lagern. Sie waren Gestrandete, [...] und keiner hatte eine Vorstellung davon, wohin ihn die nächste Woge tragen würde [...] Es war keine gute Stille. Sie hatte etwas Lauerndes, Unheimliches, so als könnte sie jederzeit, durch einen Schrei oder einen Schuß zerrissen, ihr wahres wölfisches Gesicht zeigen. Aber die neuen Wölfe heulten nicht. Die schwiegen und rechneten.“

Eine Simulation der DDR en miniature. In der Wohngemeinschaft haben sie alle zusammengefunden: die Frau Makuleit („Sie war nur ein kleiner Mensch. Der seinen Platz in einer Gemeinschaft brauchte. Der beheimatet sein wollte“), der Herr Peteraut, Frau Franz, schließlich „der Alte“ und „die Alice“. Die Namen haben einen Klang wie aus alten Defa- Schinken; ihre Pronomen suggerieren Modellcharakter. Aber Königsdorfs Personal setzt sich aus lauter Pappfiguren zusammen.

Westdeutsche firmieren unter der Sammelbezeichnung „die Neuen“; tragen sie Namen, heißen sie „Herr Schulze-Einen aus Ifflingen“ oder gleich „Josef Allenhofer“, ein Besserwessi, der als Vorsitzender einer Integritätskommission „dem Alten“ den Direktorposten seines Instituts wegnehmen läßt. Hier kennt sich Helga Königsdorf aus und beschreibt die mißliche Lage der „wissenschaftlichen Intelligenz“ nach der Einheit. Westdeutschen Evaluierern sollte dies zur Warnung gereichen: Wer Leuten den Job wegnimmt, muß damit rechnen, daß diese dann Romane schreiben.

Trotz aller Plattheiten ihres postsozialistischen Realismus aber dürfte Helga Königsdorfs Ehrgeiz höher gesteckt sein: Nicht daß ihre ProtagonistInnen nur aus Schkopauer Plaste und Elaste bestünden, nein, die nötige Transzendenz fehlt keineswegs. Ununterbrochen wird in diesem Buch gealpträumt: Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht wenigstens eine Person schweißnaß vor Angst am Frühstückstisch erscheint. „Die Marktwirtschaft und die Planwirtschaft saßen als Weibsbilder vor ihm auf dem Schreibtisch und breiteten ihre Röcke aus. Er hielt lange Zwiegespräche mit ihnen.“ Wem soll danach noch das Brötchen aus der HO schmecken? Wo man sich ja nicht einmal mehr nach draußen trauen konnte: „Sie hätte es nicht konkret auszudrücken vermocht, was sich da in den Gesichtern abspielte, aber es waren Gezeichnete.“ Was hier als existentielle Tragik verkauft wird, entpuppt sich allerdings schnell als mediokre Griesgrämigkeit: Die eine wurde von der Partei enttäuscht, der andere enttäuschte die Partei – und so weiter und so fort; mürrisches Räsonnement, das die Phase des Kindergartenclinchs noch immer nicht überschritten hat. Ehe am Schluß dieses Romans Frau Franz stirbt, „der Alte“ auszieht, „die Alice“ und Frau Makuleit auf nicht mehr zitierbare Weise dem westdominierten Jammertal entrückt werden, lüftet sich noch das Geheimnis des Buchtitels.

Werfen Regenbogen tatsächlich Schatten, oder handelt es sich hierbei um ein Phänomen, das nur auf das Terrain der fünf neuen Länder beschränkt ist und lediglich von den dort ansässigen AutorInnen geschaut werden kann? Jedenfalls bedeutet sein Anblick Unheil. Als die wackeren WG-Genossen von einem – natürlich gemeinsam unternommenen – Besuch der sterbenden Frau Franz aus dem Krankenhaus zurückkehren, läßt Herr Krüger – auch er ein von der Wende gebeutelter Mitbewohner – plötzlich „den Lada“ am Grenzstreifen halten und beginnt über dort herumliegendes Material zu kraxeln: „Als liefe er seinem Schicksal entgegen, balancierte er mit schlafwandlerischer Sicherheit auf dem Rohr entlang [...] Dabei hielt er sein Gesicht dem Himmel zugewandt und streckte dem Naturschauspiel, das sich ihm dort darbot, die Arme entgegen. Er rief ihnen etwas zu, doch sie konnten ihn nicht mehr verstehen. In diesem Moment fuhr der Blitz in mächtiger Zickzackbahn aus den Wolken genau auf die Gestalt zu, zerteilte sich und fuhr in die nach oben gerichteten Finger. Einen Moment sah es so aus, als trüge der Mann den Blitz. Es war ein erhabener Anblick. Gesehen hatten sie es alle: Der Regenbogen hatte einen Schatten geworfen.“

Der ganze Kosmos scheint sich gegen die Ossis verschworen zu haben, nicht mal die sinnlose Völlerei ist ihnen geblieben. „Der Alte“ wird zu seinem Bruder, „dem Westalten“, eingeladen und von dessen Frau mit vegetarischem Essen gequält: „Der Alte, der das Erfinderische schon fast drei Tage genossen hatte, verspürte plötzlich kräftigen Appetit auf Eisbein und Sauerkraut. Aber er folgte der Hausfrau gehorsam in die Küche und raspelte Mohrrüben und entkernte fremdländische (!) Früchte.“

Sollte Helga Königsdorf keinen Geheimvertrag mit titanic geschlossen haben, sondern ihr Buch tatsächlich ernst meinen, könnte ihre Botschaft wohl so lauten: Seht her, Gepeinigte des Ostens, so geht es euch, wenn ihr alle Moden mitmacht! Statt Sabrina und Felix müßten die nächsten Kinder dann wohl wieder Helga und Widukind heißen, gezeugt im Schatten (ost-)deutscher Eichen. Da möchte man doch glatt hoffen, daß die umweltzerstörende Westindustrie dem zuvorkommt.

Helga Königsdorf: „Im Schatten des Regenbogens“. Roman, Aufbau-Verlag, 180 Seiten, gebunden, 29,80 DM