Kunst als Virus oder als Vehikel?

■ Annelie Pohlen vom Kunstverein Bonn zur Ausstellung „Über-Leben“

taz: Kann die Kunst tatsächlich helfen, wenn es ums „Überleben“ geht?

Annelie Pohlen: So direkt würde ich die Frage mit nein beantworten. Der Titel ist der Versuch, in einem Wort etwas Doppeldeutiges zu fassen. Allerdings war es nicht die Absicht der Ausstellung, auf spezielle Bedrohungen zu reagieren, sondern zu zeigen, wie grundsätzlich geistige Energien in der bildenden Kunst vitalisiert werden. Ich glaube, daß alle Geistesdisziplinen – Kunst, Literatur und Musik – in einem erheblichen Maße Wahrnehmung und Bewußtsein schärfen. Widerstandskräfte bei denjenigen aktivieren, die sich darauf aktiv einlassen. Mich hat Beuys immer sehr überzeugt mit seiner Vorstellung von Kunst als Vehikel. Ich selber benutze häufiger den Ausdruck Virus: Daß Künstler praktisch Viren ins Bewußtsein derjenigen hineinsetzen, die sich damit auseinandersetzen – Viren, die sich dann umsetzen in eine geistige oder sinnliche Reflexion.

Aber werden Viren nicht ausschließlich mit der Vorstellung von etwas Bedrohlichem in Verbindung gebracht?

Viren werden auch im medizinischen Bereich mitunter positiv eingesetzt. Es sind Lebewesen, die sich fortarbeiten. Und so sehe ich Kunst als einen Störfaktor im trägen gesellschaftlichen Bewußtsein.

An Ihrer Ausstellung nehmen vor allem Künstler aus Westeuropa, den USA und Israel teil. Ist der Blick auf die „Über-Lebensbedingungen“ in den einzelnen Regionen verschieden?

Amerikanische Kunst ist unter dieser Perspektive eine völlig andere als die europäische. Die Problemstellungen sind sicher rund um den Globus dieselben, aber es gibt einen anderen Zugriff, da unterscheiden sich Europa und Amerika sehr deutlich. Vielleicht liegt es daran, daß Europa auf einen solchen immensen Berg von Kulturgeschichte zurückblickt und daß es Katastrophen eigentlich immer direkt vor Ort hatte. In Amerika geht man mit Kulturgeschichte ganz anders um, weil man sie in dieser Form gar nicht präsent hat. Ich denke, daß die amerikanische Mentalität dafür jedoch im gesellschaftlichen und politischen Bereich sehr viel direkter und unmittelbarer ist. Donald Judd äußerte noch 1989 zur Ausstellung „Bilderstreit“ den Vorwurf einer ständigen Doppeldeutigkeit der europäischen Kunst. Ihre Unfähigkeit, einen direkten Zugang wie etwa im Minimalismus zu finden, den es ja so in Europa nicht gibt. Und so gehen sie auch mit den Bedrohungen um, wie man zum Beispiel bei Lorna Simpson oder Rona Pondick sehen kann: Sie reagieren direkter und unmittelbarer auf den Tod, formulieren die Widerstandskräfte für das Leben sehr viel radikaler, während in Europa Beiträge wie die von Rosemarie Trockel oder Marlene Dumas eher ambivalent, vielleicht philosophisch-ethischer Natur sind.

Was an der Ausstellung auffällt, ist der ungewöhnlich hohe Anteil von Künstlerinnen.

Das ist nicht gezielt geschehen, ich gehe nicht statistisch vor. Es ist vermutlich der hohe Anteil von Risiko und Experiment, der im Werk von Künstlerinnen steckt und der mich interessiert. Und vielleicht ist das Thema selbst als emotionales, sinnliches und analytisches Experiment wiederum so riskant, daß es Frauen stärker anspricht. Das ist allerdings spekulativ. Doch die Tatsache, daß Frauen immer noch nicht zum Erfolg erzogen werden, läßt ihnen eine gewisse Freiheit zu sagen: Das probier ich mal aus. Interview: Thomas Fechner- Smarsly