Diesseits des Todes

Im Bonner Kunstverein sondiert „Über-Leben“ das Thema der neunziger Jahre  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Die Bonner Ausstellung mit dem programmatischen Titel „Über-Leben“ hätte sich Joseph Beuys zum Vor- und Übervater wählen können. Denn schon in seiner Arbeit ließen sich die Unterschiede zwischen sozialem und kreativem Engagement ganz einfach überbrücken: Kunst ohne den Gedanken an die Verbesserung der Lebensbedingungen war für ihn keine.

Wer allerdings gegenwärtig von den (Über-)Lebensbedingungen spricht, kann erst recht nicht über die Todesarten schweigen. In Zeiten von Krieg und Rassismus, Hunger und Aids wird die Kunst zu deren Bildspeicher, sei es aus Verantwortung oder aus Teilnahme – oder schlicht aus dem Erschrecken heraus, daß all dies möglich ist am Ende des 20. Jahrhunderts. So setzt die Bonner Ausstellung gleich zu Beginn Mirian Cahns aus graustufigen Zeichnungen und kindlich-heftigen Fingermalereien bestehenden Bilderzyklus „Sarajevo 1992/93“ oder eine Serie mit den Fotografien von Tierkadavern, die der Amerikaner Bob Braine an Landstraßen oder in Großstadthinterhöfen aufnahm. Zwei willkürliche Standpunkte mit einer exemplarischen Sichtweise, was sich im großen und ganzen auf die gesamte Auswahl der 29 Künstler der jüngeren und jüngsten Generation übertragen läßt.

„Die vom Individuum nicht mehr faßbare Explosion der physischen und psychischen Gewalt gegen das Leben offenbart den tiefen Verlust der ,Erotik des Herzens‘, den Verlust einer begrifflich nur annähernd umschreibbaren Energie als Ausdruck einer humanen Haltung im Zeitalter der vorstellbaren künstlichen Menschen“, formuliert Annelie Pohlen, Leiterin des Bonner Kunstvereins und Organisatorin der Ausstellung, in deren Katalogvorwort. Was ein wenig angestrengt klingt, beschreibt neben der Zunahme an Gewalt letztlich den Zerfallsprozeß von menschlicher Nähe und Erfahrung. Deren Halbwertzeit nimmt rapide ab, verliert sich irgendwo hinterm Komma einer totalen und sich total distanzierenden Medien- und Technologiegesellschaft.

Gegen diese Mangelerscheinung bezieht die Ausstellung, beziehen die Künstler aus Europa, den USA und Israel Position. Und zwar ohne jede Larmoyanz, ohne die angespannte Mimik der Betroffenheit und die politische Mimikry der Korrektheit. Hinsehen, eine Erfahrung verarbeiten, eine Form dafür finden – darum geht es.

So zielte der Ausdruck „Erotik des Herzens“ vor allem auf die Fotografien Nan Goldins, zum Beispiel das Dyptichon „Alf Dead, Berlin 18.8. 1993“ und „Fritz 5 Days Old, Berlin 18.8. 1993“. Im Krankenbett der tote Freund, hohlwangig mit hochgebundenem Kinn und leicht geöffneten Lidern. Daneben das fünf Tage alte Baby auf dem Schoß seiner Mutter. Als müsse sich die Fotografin immer wieder vergegenwärtigen, was unfaßbar bleibt, daß der vitale Zusammenhang zwischen Geburt und Tod zugleich ein tiefer Riß ist.

„Ich denke gewöhnlich, daß ich jemanden nicht verlieren kann, wenn ich ihn nur häufig genug fotografiere. Ich fotografiere, um Verlust zu vermeiden. Aber nach den jüngsten Toden vieler meiner Freunde habe ich die Grenzen dessen erkannt, was bewahrt werden kann“, beschrieb Nan Goldin selbst einmal den Impuls und die Grenzen ihrer Arbeit. Ihre Fotografien sind auf eine rasche, momentane und leicht verwischte Weise genau. Aber vor allem – sie wenden sich nicht ab. Das bedeutet schon viel, aber ist es deshalb schon Kunst? Genau an dieser Stelle geraten die Maßstäbe ins Wanken. Wie nah kommt die Kunst dem Leben, wie nah darf sie ihm überhaupt kommen?

Eine Wachspuppe, der man die Haut abgezogen hat, ein bloßgelegter Körper aus künstlichem Fleisch und Blut, mit einem bedeutungsvollen Titel. Ist Kiki Smith' „Virgin Mary“ nur noch ein Fallbeispiel aus der Anatomie? Oder ein Opfer der unterschwelligen Gewalt? Die offensichtliche Verletzbarkeit und Verletztheit findet sich noch drastischer in der Anti- Idylle „Daisy Chain“ auf dem Boden des Kunstvereins ausgebreitet: eine stählerne Kette, zu einem Gänseblümchen (auf englisch „daisy“) gelegt, in deren Blüte der Kopf, an deren Blättern die Gliedmaßen einer Frau hängen. Zwischen lieblicher Dekoration und SM-Phantasie beschreibt Kiki Smith die Benutzbarkeit des Objektes Frau bis hin zur Zerstückelung.

Da zeugen – als Erleichterung? – die beiden mit allerlei Fläschchen und Pillendosen gefüllten Arzneischränke Damian Hirsts weniger von der Agonie des Realen als von dessen Betäubung. Ästhetisierung als Anästhetisierung? Ansonsten sind Empfindlichkeiten nicht die Sache Hirsts, wenn er halbe Kühe oder ganze Haie in Formalin-gefüllten Glasboxen versenkt. Allerdings: was er uns zumutet, haben wir längst zu akzeptieren gelernt, nur nicht als Kunst. Kein Mensch nimmt Anstoß an Schweinehälften, die von der Decke einer Schlachterei hängen.

Auch Felix Droese schafft „Keine Kunst, aber Tatsachen“: zwei tote Vögel, schon halb verwest, in einer alten Kiste unter Fensterglas. Das Ensemble ist über eine Schnur verbunden mit zwei überdimensionalen Glasgefäßen wie aus einem chemischen Labor. Droese vertritt am deutlichsten einen Beuysschen Kunstbegriff. Dahinter steckt eine alchimistische Haltung, die das Unmögliche möglich machen will, ohne den Dingen ihr Geheimnis zu nehmen. Bei Hirst gibt es dieses Geheimnis nicht und deshalb auch keine Offenbarung, da erschöpft sich ein sozial-realistischer Minimalismus schnell in seiner unterkühlten Pose, verglichen mit dem engagierten Wiederbelebungsversuch durch den Alchimisten.

Neben diesen Ausflügen in die Pathologie nehmen sich malerische Positionen wie die von Gustav Kluge, Marlene Dumas oder Francesco Clemente ungleich idyllischer aus. Natürlich zeigen sich gerade an ihnen die Ablagerungen einer Jahrhunderte alten Bildtradition, etwa auf „The Messengers“ von Marlene Dumas, in dessen Metamorphosen eines Skeletts zum kleinen Mädchen oder umgekehrt das Motiv des Totentanzes anklingt und dessen formale Gestaltung an Kirchenfenster oder Nischen für Skulpturen erinnert. Anders als in dieser sehr abendländisch geprägten Metaphorik von Leben und Tod ist Clementes Huldigung ans Ei („Ave Ove“) schon durch die Farbgebung eindeutig als Lebenskeim zu erkennen.

Eine solch optimistische Bestimmung des Lebens als Werden und Vergehen, als ewiger Kreislauf kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die meisten der präsentierten Künstler das Über-Leben aus der Perspektive und dem Bewußtsein des Todes heraus beschreiben. Ob es in der „Heiterkeit des Monströsen“ (Boris Groys) endet wie bei Rona Pondicks in rosa Plastikmasse eingekneteten Gebissen, die sie wie süße Murmeln über den Boden gekullert hat („Treats“); ob Rosemarie Trockel mit einem doppelten Christus aus Gips das Erlösungsversprechen ironisch provoziert; oder ob Lorna Simpson die Fotografie eines alten Paares Schuhe auf Glasplatten überträgt und immer mehr verblassen läßt – übrig bleibt nur ein dinglicher Erinnerungsrest.

Es ist die Frage nach dem Verschwinden des Menschen, die hier gestellt wird. Aber sie wird diesseits des Todes gestellt.

Die Ausstellung „Über-Leben“ im Bonner Kunstverein ist noch bis einschließlich 6. Februar 1994 zu sehen. Der Katalog kostet 35 DM.