■ Der Bürgerkrieg in Afghanistan fordert neue Opfer
: Zu weit entfernte Tote

Zehntausend Tote in Afghanistan, so schätzt man für die letzten zwanzig Monate, seit dem Sturz des marktwirtschaftlich und national gewendeten Präsidenten Nadschibullah. In den vergangenen Tagen haben sich die Kämpfe in und um Kabul wieder intensiviert, und sie haben auf den eher ruhigen Norden übergegriffen. Die Lage ist noch und wie meistens unübersichtlich, aber eines ist klar: die „Todfeinde“ Hekmatjar und Dostam (der eine ein „fundamentalistischer“ Paschtune, der andere ein „postkommunistischer“ usbekischer Warlord) haben sich gegen den offiziellen Staatspräsidenten Rabbani (einen „fundamentalistischen“ Tadschiken) verbündet. Bei rund fünfzig Kriegen rund um den Globus und der Gewöhnung an Massaker in vielen Gegenden – spielen da ein paar hundert Tote mehr oder weniger eine Rolle?

Sie sollten es. Wenn ich mir das Interesse der Medien und ihrer Konsumenten an achthundert zusätzlichen Toten an einem einzigen Tag in Sarajevo vorstelle und das mit dem völligen Desinteresse am Sterben in Kabul vergleiche – dann drängt sich die Frage auf, wie rassistisch unser Interesse ist. Da sind europäische Tote viel interessanter und schrecklicher als afghanische, liberianische, sudanesische. Die Nachrichtenagenturen, Zeitungen und Fernsehsender machen sich nicht einmal die Mühe herauszufinden, was in Afghanistan eigentlich geschieht. Informationen fehlen ganz, widersprechen sich, werden ohne Prüfung aus zweifelhaften Quellen und von den Kriegsparteien übernommen. Dieser Krieg ist einfach nicht wichtig genug, um auch nur seine Gründe herauszufinden. Mit Somalia (nicht mit dem Land, sondern mit „unseren Jungs“) und Sarajevo haben wir genug zu tun.

Und noch etwas ist interessant an den neuen Kämpfen in Kabul. Wie in anderen Konflikten taugen die ethnischen und religiösen Gründe nicht. Beide Seiten berufen sich auf Gott, um das Gemetzel zu rechtfertigen. Und auf beiden Seiten findet man nichts dabei, sich mit säkularen und postkommunistischen Milizen zu verbünden. Flexibler kann „Fundamentalismus“ nicht sein. Und auf beiden Seiten hat man nichts dagegen, sich durch Opium- und Heroinhandel zu finanzieren. Auch die Marktwirtschaft hat also schon Wurzeln geschlagen. Die ganzen ethnischen und religiösen Begründungen sind Vorwände. Dieser Krieg, und die meisten anderen, wird nicht deswegen geführt, sondern aus Machtinteresse. Warlords gieren nach Geld und Macht, das ist alles. Wie schön, daß Europa und Asien sich so nah sind. Jochen Hippler

Direktor des Transnational Institute (TNI) in Amsterdam