Verräter, Dissidenten und grüne Clans

Seitdem in der Opelstadt Rüsselsheim eine kunterbunte Koalition regiert, die von der CDU über drei Grüne bis zur „Liste Rüssel“ reicht, hängt bei den Grünen der Haussegen schief  ■ Von K.-P. Klingelschmitt

Rüsselsheim (taz) – Stellen Sie sich eine Stadt mit rund 60.000 EinwohnerInnen im Rhein-Main-Gebiet vor, die von einer christdemokratischen Oberbürgermeisterin regiert wird – und zwar auf der Basis einer schwarz-gelb-hellgrün- bunten Koalition. Stellen Sie sich außerdem vor, daß von den neun Mitgliedern der grünen Fraktion in diesem Stadtparlament ganze drei der außergewöhnlichen Koalition beigetreten wären, während die restlichen sechs Grünen mit der SPD formal die Oppositionsbank wärmen. Und gehen wir noch einen Gedankenschritt weiter: Weil die drei Grünen gegen den erklärten Willen der sechs anderen dem kunterbunten Bündnis beitraten, dürfen sie jetzt eine Bürgermeisterin stellen.

Alles Nonsens, werden Sie sagen. Aber nein. Denn in der Opelstadt Rüsselsheim haben sich im Stadtparlament Christdemokraten, Freie Demokraten, die vom Mehrheitswillen der Parteibasis getragenen grünen Koalitionäre, Mitglieder der „Liste für NichtwählerInnen, ErstwählerInnen und ProtestwählerInnen“ und last not least die junge „Liste Rüssel“ zu einer republikweit außergewöhnlichen Koalition zusammengefunden. Die Oberbürgermeisterin heißt seit Mitte Dezember Otti Geschka (CDU) und die designierte Bürgermeisterin der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen Gabriele Klug. Und die sechs „Dissidenten“ bei den Grünen, denen das seit den Kommunalwahlen vom März anvisierte Bündnis vor allem mit der CDU ein Greuel war und ist, wurden – noch nicht formal, aber definitiv – als Störenfriede an den Parteirand gedrängt. Daß es sich bei den „Dissidenten“ um altgediente Rüsselsheimer Grüne handelt, die vor Ort die Partei mit aufgebaut haben, störte nur einige Moralisten.

Der sozialpolitische Sprecher der Grünen im Kreistag von Groß- Gerau, Ozan Ceyhun, jedenfalls hat die drei Koalitionäre in der Rüsselsheimer Regierung, die immer noch den offiziellen Namen Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen tragen, zu alleinigen Ansprechpartnern für die Grünen im Landkreis Groß-Gerau erklärt. Die restlichen sechs Grünen in der Fraktion seien dagegen keine richtigen Grünen mehr – und hätten deshalb ihre Mandate niederzulegen. Einer der „Dissidenten“ hat der Aufforderung der Kreisleitung inzwischen Folge geleistet und „aus beruflichen Gründen“ seinen Abschied aus der Fraktion genommen.

Fröhlich pfeifend zog Achim Bender am vorletzten Sonnabend sein Einkaufswägelchen durch die City von Rüsselsheim. Der einst knallharte Startbahnkämpfer ist heute Mitglied der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im Stadtparlament – und (vorerst) am Ziel seiner Wünsche. „Historisch“ nennt Bender die neue Koalition, die – so Kritiker aus der Partei – bei Bündnis 90/ Die Grünen von ganzen drei Familen (mit-)getragen werde: von Achim Bender und seiner Lebensgefährtin, von der designierten Bürgermeisterin Gabriele Klug und ihrem Lebensgefährten und von der Familie Muster. Frau Muster ist heute Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen im Stadtparlament. Und Herrn Muster, der als Fundi noch vor knapp zwei Jahren als „Totengräber der Grünen“ be- und gehandelt wurde, wählte die Basis vor knapp zwei Wochen in den Ortsvorstand.

Die Kritik an der „Clanpolitik“ bei Bündnis 90/ Die Grünen in Rüsselsheim ficht Achim Bender nicht an. Schließlich habe eine Parteiversammlung mit satter Mehrheit für die Koalition votiert – und deshalb würden die „Dissidenten“ Verrat an der Basis begehen.

Den „Verrätern“ ist dagegen nicht nur das programmatische Eis zu dünn, auf das sich die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen begeben habe.

Die aberwitzige Koalition, so ihre Prognose, werde beim ersten größeren Konflikt einbrechen. Für „Dissident“ Karl-Heinz Przyklenk ist die Zeit der Fraktionszwänge und festen Parteibindungen ohnehin vorbei: Die allgemeine Parteienverdrossenheit, so seine Mutmaßung, werde dazu führen, daß die Menschen gerade auf kommunaler Ebene ihre Interessen in speziellen Bürgervereinigungen in den Parlamenten selbst wahrzunehmen suchten. Und zwar an den Parteien vorbei. Przyklenk hätte sich deshalb in Rüsselsheim einen Allparteienmagistrat gewünscht – „und an der Sache orientierte parlamentarische Arbeit ohne Blockbindung“.

Die „Dissidenten“ werfen vor allem der designierten Bürgermeisterin Gabriele Klug vor, mit „knallharter, an Eigeninteressen orientierter Machtpolitik“ diese Chance verspielt zu haben.

Auch Oberbürgermeisterin Otti Geschka scheint mit Blick auf die Länge der Legislaturperiode nicht mehr ganz so wohl zu sein, wie vor dem Abschluß des Koalitionsvertrages. Geschka, die unter Ministerpräsident Wallmann Staatssekretärin für Frauenfragen in Hessen war, und die – zum Amüsement ihrer feministischen Mitarbeiterinnen aus der rotgrünen Ära – zum Frauentag einen selbstgebackenen Kuchen mit in die Behörde brachte, legte bei den Feierlichkeiten zur Amtsübernahme großen Wert auf die Feststellung, Bürgermeisterin aller RüsselsheimerInnen zu sein. Das Hintertürchen für Geschka heißt große Koalition, auch wenn die SPD zur Zeit davon nichts (mehr) wissen will.

Zwei Legislaturperioden lang hatten die Sozis unter Oberbürgermeister Norbert Winterstein (SPD) zusammen mit der CDU die Stadt regiert – bis zum Desaster der Sozialdemokraten bei den letzten Kommunalwahlen. Für den bündnisgrünen Koalitionär Achim Bender ist die neue Fünf-Parteien- Koalition deshalb „zum Erfolg verdammt“.

Und selbst „Dissident“ Karl- Heinz Przyklenk wünscht weder Geschka noch Klug die politische Pest an den Hals. Vielleicht, so sinniert der Grüne, heile die Zeit auch in Rüsselsheim alte Wunden. Zur Bürgermeisterin wählen werden die „Dissidenten“ die „Machtpolitikerin Gabriele Klug“ (Przyklenk) im März allerdings nicht. Dann müsse das neue Bündnis den ersten Beweis dafür antreten, daß das bei Vertragsunterzeichnung genannte „Haltbarkeitsdatum: März 1997“ (Termin der nächsten Kommunalwahl) keine „Verbrauchertäuschung“ gewesen sei.