Diskriminiert und von den fruchtbaren Böden verdrängt

■ Indianische Bauern haben keine Chance gegen die lokale Bürokratie und bestochene Richter

Der Spuk dauerte nur einen Tag lang, doch dürfte er den lokalen Kaziken und den Herrschenden in der fernen Hauptstadt tief in die Knochen gefahren sein. Zum ersten Mal seit fast 20 Jahren meldet sich in Mexiko eine Guerilla-Bewegung zu Wort. Während am Sonntag in San Cristóbal de las Casas, mit 80.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt des Bundesstaates Chiapas, alle lokalen Sender schwiegen, dekretierten die uniformierten und mit Flinten bewaffneten Kämpfer über ihre mobile Funkstation ihr „revolutionäres Gesetz“: Ländereien, die größer als 100 Hektar sind, werden enteignet und verteilt; es wird eine „Kriegssteuer“ eingeführt, gestaffelt nach Einkommenslage: sieben Prozent für Kleinbauern und Händler, mindestens 20 Prozent für die „Reichen, Oligarchen und Industriellen“ – ganz in der Tradition des heute weithin mythisch verklärten mexikanischen Revolutionärs Emiliano Zapata.

Der Guerillero mit dem breiten Hut und den gekreuzten Patronengurten hatte den radikalsten Teil der bäuerlichen Aufstandsbewegung verkörpert, die Mexiko 1910 bis 1920 erschütterte. Etwa eine Million Menschen verloren in den revolutionären Wirren ihr Leben — für tierra y libertad, Land und Freiheit. Die zweifellos wichtigste Errungenschaft jener Zeit war die Landreform, wie sie im Artikel 27 der Verfassung von 1917 festgeschrieben wurde. Just dieser Artikel aber wurde vor einem Jahr, im Dezember 1992, „renoviert“, das heißt faktisch abgeschafft. Mit der „Reform der Jahrhundertreform“ wurde den bäuerlichen Genossenschaften (Ejidos) die Grundlage entzogen. War bis dahin sämtliches Land ab einer bestimmten Größe per Gesetz unveräußerliches Eigentum des Staates, der es an Kommunen oder „Ejidos“ verteilen konnte, wurden nun die Genossenschaftsbauern selbst Eigentümer des Bodens, den sie bebauten, und konnten ihn also auch veräußern. Angesichts der Verschuldung vieler „Ejidos“ waren damit dem privaten Agrarkapital und auch Joint-ventures Tür und Tor geöffnet. Daß mit der „Neuen Agrarreform“ denn auch das Agrarreformministerium aufgelöst wurde, war nur folgerichtig. Es war überflüssig geworden.

Die Reform der Jahrhundertreform

Der wichtigste Grund für die Rücknahme der historischen Errungenschaft der Revolution dürfte das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) sein, das zu Jahresbeginn in Kraft trat. Angesichts der bevorstehenden zollfreien Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus dem Norden, setzt die mexikanische Regierung via Privatisierung des Landeigentums auf eine Erhöhung ihrer eigenen, traditionell niedrigen Produktivität im Agrarbereich. „Nieder mit dem Nafta, es lebe die Freiheit!“, sprühten denn auch die indianischen Guerilleros, die das Rathaus von San Cristóbal de las Casas plünderten, auf die Mauern des Kolonialstädtchens, das jährlich Zehntausende von Touristen anlockt.

Daß die Revolte gerade im Süden Mexikos ausbrach, konnte nicht verwundern. Chiapas ist nicht nur der am stärksten indianisch geprägte, sondern auch der ärmste Bundesstaat des Landes. Zwar zeigt sich der mexikanische Staat bei jeder Gelegenheit stolz auf seine reiche vorkolumbianische Geschichte und die indianische Kultur. Doch die Nachfahren der Azteken und Maya, die wirklichen, leibhaftigen Indianer werden als „Indios“ verachtet und stehen ganz unten auf der sozialen Stufenleiter. In Chiapas, dem Armenhaus Mexikos, sind sie längst aus den fruchtbaren Gebieten verdrängt. Ihre „Milpas“, die kleinen Maisfelder, ziehen sich die unwirtlichen, von Erosion bedrohten Berghänge hinauf. Und vom „Prograno“- Programm, das der bald scheidende Präsident Salinas de Gortari vor drei Monaten verkündete, um die landwirtschaftliche Produktion zu fördern, werden gerade sie kaum profitieren.

Die Indianer des mexikanischen Südens befinden sich in einer verzweifelten Situation. Allein in Chiapas haben in über 600 Konflikten um Landtitel etwa 15.000 indianische Bauern Beschwerde eingelegt, um die Herausgabe von 300.000 Hektar Land zu fordern. In aller Regel haben sie gegen die Allianz von Kaziken, lokaler Bürokratie, bestochenen Richtern und gekauften Pistoleros keine Chance, zu ihrem Recht zu kommen. Die Gewalt – in Form illegaler Landnahme, Ermordung von Bauernführern, Folterung auf Polizeistationen – ist in Mexiko geradezu endemisch.

In Chiapas, dem wohl konfliktreichsten Bundesstaat, finden die indianischen Bauern Unterstützung am ehesten noch bei der Katholischen Kirche. Vor allem der 70jährige Don Samuel Ruiz Garcia, seit 35 Jahren Bischof von San Cristóbal de las Casas, hat sich immer wieder für die Rechte der Indianer seiner Diözese, aber auch für die über 100.000 guatemaltekischen Indianer, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land nach Chiapas geflohen sind, eingesetzt. Kein Wunder, daß am Sonntag die Regierung „einigen katholischen Geistlichen, die der Befreiungstheologie anhängen“, vorgeworfen hat, die Aufständischen zu unterstützen. Der streitbare Bischof steht ganz in der Tradition seines Vorgängers, der der vorübergehend von den Guerilleros der „Zapatistischen Befreiungsfront“ eingenommenen Stadt San Cristóbal den zweiten Teil ihres Namens gegeben hat: Der spanische Dominikanerpater und Bischof von Chiapas, Bartolomé de las Casas, hatte sich im 16. Jahrhundert als „Verteidiger der Indianer“ einen Namen gemacht. Thomas Schmid