Ein „kleines Wunder“ namens Hinz & Kunzt

■ Obdachlosenzeitung wächst und gedeiht / Erpresser bedrohen VerkäuferInnen

Davon kann manche Zeitung nur träumen. Während andere Hamburger Medien-Neuschöpfungen mit niedrigen Auflagenzahlen herumkräpeln, verzeichnet Hinz & Kunzt, die Obdachlosenzeitung, eine Auflage von 120.000 Exemplaren. Im November hatte das Projekt des Diakonischen Werkes mit 30.000 Exemplaren angefangen. Die Redaktion mußte erweitert werden, mittlerweile arbeiten vier Festangestellte und drei Honorarkräfte bei Hinz & Kunzt.

Doch es gibt nicht nur Grund zur Freude. Denn manche der VerkäuferInnen, die die Obdachlosenzeitung für 1,50 Mark feilbieten – und davon eine Mark als Verdienst behalten dürfen – werden erpreßt. Dieter Redenz, bei Hinz & Kunzt für den Vertrieb zuständig, weiß von drei Fällen: Auf der Mönckebergstraße, auf dem Jungfernstieg und am Wandsbeker Markt wurden die Obdachlosen mit Messern bedroht. Die Jeansjackenträger forderten als Schutzgeld die Hälfte der Tageseinnahmen. Nun sucht die Kriminalpolizei nach Zeugen.

Der Lohn für einen Verkaufstag liegt um die 70 Mark. Die mittlerweile 235 StraßenverkäuferInnen verdienen sich dadurch ein monatliches Einkommen von maximal 1400 Mark. Deswegen haben manche bereits ihre Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe zurückgeben können. Doch nötig ist dies noch nicht, die Ämter drücken beim Überschreiten der amtlich erlaubten Verdienstgrenze von 125 Mark „beide Augen zu“, sagt Dieter Redenz. Allerdings nur bis Ende März, dann muß erneut zwischen dem Diakonischen Werk und den Behörden verhandelt werden.

Eine LeserInnen-Umfrage im Dezember bestärkte das Konzept von Hinz & Kunzt. Die Mischung aus Kultur-Tips und Obdachlosen-Themen kommt gut an. Über 80 Prozent wollen noch mehr über die Situation von Wohnungslosen und Hamburger Stadtpolitik wissen. Mit soviel Interesse hatte am Anfang niemand gerechnet. Stephan Reimers, Herausgeber des Blattes und Leiter des Diakonischen Werkes, spricht von „einem kleinen Wunder“. Er erhofft sich von dem Projekt, das nach Londoner Vorbild entwickelt wurde, auch eine politische Wirkung: Er will nicht nur Obdachlosen zu Einnahmen und Beschäftigung verhelfen und die WohnungsbesitzerInnen für die Probleme von Wohnungslosen sensibilisieren, sondern er setzt auch auf handfeste Hilfe vom neuen Senat, „etwa durch Pavillon-Dörfer“.

In diesem Monat rechnen die Hinz & Kunzt-MitarbeiterInnen erstmals mit einer Kostendeckung durch Verkauf und Anzeigen-Einnahmen von 75.000 Mark. Bislang wurde das Projekt, bei dem viele Obdachlose und wenige Professionelle mitarbeiten, durch Spenden finanziert. Trotz der „Traumauflage“, so Chefredakteur Ivo Banek, sei die Zeitung weiter darauf angewiesen, mit einem Rückgang der Auflage im Sommer sei zu rechnen.

Gebraucht werden auch noch mehr VerkäuferInnen. Doris Tito, die Projektleiterin, will dadurch diejenigen Stadtteile abdecken, in denen bislang noch keine Hinze & Kunzte verkauft werden konnten. Wer weiß, vielleicht übertrifft die Obdachlosenzeitung an Auflage eines Tages sogar Springers Abendblatt, das ihr kräftig mit auf die Beine geholfen hat. Annette Bolz