Beinahe ein anderes Stück

■ Armin Petras inszeniert Ulrich Plenzdorf in Frankfurt/Oder

Auf der Bühne kann manchmal schon eine Ohrfeige tödlich sein. Nachdem Karl seinen terroristischen Adoptivpapa Julius vergeblich aus dem Knast befreien wollte, erhält er eine solch väterliche Watschen, daß er wie von einer Kugel getroffen umfällt. Exitus durch Enttäuschung. Das arme Kind hat in diesem Moment den Vater verloren und damit das Ideal und damit die Hoffnung und damit alles, auch das zarte Leben. Ade Karl.

Bitter und mürrisch endet in Frankfurt/Oder eine Uraufführung, die immerhin zwei fidele Stunden füllte. Ulrich Plenzdorfs „Mörderkind“ ist auch kein übles Stück, sondern ein ordentliches Drehbuch zum Film von Heiner Carow, das hier jedoch als eine Art Musical gezeigt wird. Ein DrehbuchStückMusical also, genaugenommen, das schwach und stark zugleich ist. Stark, weil der trotz Graubart ewig jugendliche Plenzdorf, unserer Jugend in Schwedt die Probleme abgelauscht hat. Weil er notierte, wie sie mit den Folgen der zerbrechenden DDR- Welt um- beziehungsweise daran zugrunde gehen. Das interessiert uns. Weniger hingegen interessiert uns das Schicksal von Karls Papa Julius, der sich als befriedeter Terrorist in eine Ostfamilie eingeschmuggelt hatte und nun enttarnt wird. Wir sehen auch ungern einen Ex-SS-Mann als Wärter des Ex- RAF-Mannes auftreten. Und verfolgen mißmutig, wie Plenzdorf gleich einem Soziologen dramaturgisch hinterfragt (!), wie und warum man Widerstand mit Waffengewalt ausüben darf. Beinahe hätte er wohl ein anderes Stück geschrieben. Möglicher Titel: „Die neuen Leiden des Hamlet“. Statt Sein oder Nichtsein ist die Frage: „Killen oder nicht killen?“

Es ist ein Verdienst des heftig talentierten Jungregisseurs Armin Petras, daß er großes Vertrauen in den Autor, aber noch größeres in seine eigene Phantasie hat. So peppelt er das blasse, strapazierte Werkchen mit einer Portion Petras' kühnen Spielwitz, Petras' purem Slapstick, Petras' schrägem Gesang und Petras' wackligem Tanz, bis es ein gesundes rundes Werk ist. Von Beginn an, als kurz nach der Wiedervereinigung die Schergen Julius dem schützenden Schoß der Schwedter Familie entreißen, bis zur Befreiungsuntat Karls, rollt so ein rotzfreches und trotzigkomisches Szenario über die gesamtdeutsche Malaise vorbei. Man sieht das Mörderkind inmitten seiner Schulklasse, die gegen die Russischlehrerin unsanft rebelliert. Man folgt Karl auf einen Schießplatz, wo kleine Rambos wild herumballernd die große Abrechnung (mit links oder rechts?) einüben. Man hört den Frust seiner Mutti, die sich alleingelassen und alkoholbenebelt erträumt, mit einer Imbissbude und den besten Puffern der Welt das große Geld zu machen. Und man wandert mit dem Jungen in den Bau, wo die Vollzugsbeamten artistisch vertrottelt – sichtlich total entfremdet – ihren Dienst schieben.

Dieses Bilderkarussell hält Tilmann Dehnhards aus alten Liedern neu komponierte Musik in Schwung. Songs wie „West schlägt Ost“ oder das „Lied von der Lust der Unterdrückung“ oder „Wenn bei Cuba die rote Flotte im Meer versinkt“ werden unverschämt charmant und dilettantisch und kalauerlüstern dargeboten. Daß der Theaterbesucher nicht an zu viel lustiger Lustigkeit ermattet, ist vor allem den jugendlichen Darstellern (Hervorruf: Sebastian Reznicek als Karl) zu verdanken. In dem bedrohlich schwarzen Kunstraum von Philipp Stölzl – die Welt ist ein Schießplatz! – spielen die Laien unverwüstlich und naiv, leichtsinnig und frisch, kraftvoll und lebenshungrig. Damit stecken sie schnell das Ensemble an, die jedwede routinierten Allüren und Tricks in der Garderobe lassen. Damit erobern sie natürlich das willige Parkett im Sturm. Und verleiten sogar den unbestechlichen Kritiker zu einem wohlmeinenden Lächeln. Allein die notorischen Miesepeter, die Feinde des ernsten Spaßes, die geistig früh Ergrauten stehlen sich heimlich mit zusammengepreßten Lippen davon. Wahrscheinlich, um sich Zuhause darüber zu ärgern, daß sich andere im Theater freuen konnten. Dirk Nümann

„Mörderkind“ von Ulrich Plenzdorf, Regie: Armin Petras, Bühnenbild Philipp Stölzl. Mit Sebastian Reznicek, Rahel Ohm, Dirk Wäger, Cristin König u.a. Nächste Vorstellungen: 9. 1., 14.30 Uhr; 20.1., 19. Uhr, Kleist-Theater, Gerhart-Hauptmann-Str. 3/4, 15234 Frankfurt (Oder), Karten: 03 35/32 54 80