■ Die Plutoniumversuche in den USA: ein Betriebsunfall
: Gewaltverhältnis Staat

Ein Staat spritzt Menschen Plutonium: Eine grauenhafte Vorstellung, nicht wahr? Eine katastrophische Tatsache, mit der Demokratie unvereinbar, ihr diametral widersprechend! Eine Ausnahme, zu spät, aber immerhin ans Licht gekommen, und so gesehen ein Beweis für das Funktionieren moderner Gemeinwesen... Schön wär's: Alles nicht wahr. Es handelt sich um einen Betriebsunfall – wie Harrisburg, wie Contergan: Es entspricht der Logik des Betriebs.

Der Staat besteht aus der Übereinkunft vieler (idealiter: aller), Gewalt zu monopolisieren. Nach innen sind es Polizei und Justiz, nach außen verkörpert die Armee die Institutionalisierung der Gewaltverhältnisse, welche jede Gesellschaft auch bestimmen. Der Schutz der Schwachen vor den Starken, der Frauen vor den Männern, der Normalisierten vor den Durchgedrehten: Mehr oder minder ideologisch oder gerecht findet er seine Formulierung in den Gesetzesbüchern. Die individuelle Gewalt ist damit nicht annulliert, aber sie gerät an einen grundsätzlich überlegenen Gegner: die gemeinschaftliche Gewalt.

Dieser Zusammenhang wird durch den demokratischen Staat, in dem alle BürgerInnen Stimme und gleiche Rechte haben, um eine entscheidende Betriebsvereinbarung verbessert: Daß alle Gewalt vom Volke ausgeht, unterwirft den Staat gesellschaftlicher Kontrolle und seine Normen und Praktiken permanenter, verändernder Kritik. Dieser historische Fortschritt täuscht gern darüber hinweg, daß die Monopolisierung der Gewalt im Staat in ihrer Voraussetzung unangetastet bleibt. Und diese Voraussetzung lautet: Über das Lebensrecht seiner BürgerInnen verfügt der Staat. Auch individuelle Empörung gegen dessen Entscheidungen (also beispielsweise die Klage gegen Umweltschädigungen) muß den Rechtsweg – den Weg über staatliche Organe also – beschreiten; der Staatsbürger kann nur als solcher sein Lebensrecht geltend machen.

Für die genannte Voraussetzung jedweden Staates gibt es zwei bekannte symbolische Zuspitzungen: die Wehrpflicht und die Todesstrafe. In ihren Entscheidungen über Krieg und Frieden und in der Exekutierung einzelner BürgerInnen macht der Staat von seinem Recht Gebrauch, über das Leben seiner Mitglieder zu entscheiden. Das Reden über den Atomstaat ist die einzige weitere Offenlegung jenes elementaren Gewaltverhältnisses namens Staat, obwohl unzählige andere Handlungen, ganz unspektakulär, dieses immer wieder bestätigen: Die weitgehend intransparente Definition von „Grenzwerten“ im Bereich gesundheitsschädlicher (und welche wäre es nicht?) Industrien, die billigende Inkaufnahme von Verkehrstoten, die Genehmigung hochgefährlicher Chemie- und Sondermülltransporte werden längst als selbstverständlich hingenommen. Denn auf der anderen Seite wartet die Kompensation: der Wohlfahrtsstaat, der durch Kranken- und Pflegeversicherung, durch Sozialhilfe und Altenheime unser Leben durchregiert und gegen fast alle Risiken abfedert. Gesundheitsfürsorge und Atomindustrie gehören aber zusammen: In beiden Feldern beweist sich der Staat als Herr über Leben und Tod, und seine Kalküle – die sich der Wirtschaft im Regelfalle unterwerfen – sind den individuellen erwartbar feindlich.

Sicher – einzelnen Plutonium zu spritzen, ist ein aggressiver, ungesetzlicher Akt. Die Errichtung einer Atomanlage, die Genehmigung eines Gifttransportes streut Aggression und Risiko auf unbestimmt viele und ist gesetzlich. Den drei genannten Fällen ist aber gemeinsam, daß das individuelle Leben nicht der höchste Wert im Entscheidungsspiel ist. Den kann nur die Gesellschaft geltend machen: durch öffentliche Kontrolle, durch Initiativen, durch Streiks, durch spektakuläre Aktionen. Die Instrumente der Gesellschaft sind da – sie müssen nur angewandt und, permanent, geschärft werden. Der Staat, dessen Errichtung immer auf Gewalt beruht, wird von den Menschen jeweils vorgefunden. Der Staat ist geronnene Macht, Demokratie ist tägliche Arbeit. Elke Schmitter