: Härtefälle selektieren
■ Härtefallregelung des Pflegegesetzes zwingt Pflegekasse zu makabrer Auswahl
Berlin (taz) – Die Härtefallregelung der Pflegeversicherung schiebt den Pflegekassen die makabre Entscheidung zu, unter den Pflegebedürftigen eine begrenzte Anzahl auszuwählen, die die höheren Leistungen für Härtefalle in Anspruch nehmen können.
Der Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat hatte im Dezember vergangenen Jahres festgelegt, daß die Pflegekassen für Härtefälle bei der stationären Pflege bis zu 3.300 Mark übernimmt, wenn ein außergewöhnlich hoher Pflegebedarf besteht. Dies wurde jedoch mit einer Einschränkung verknüpft: Die Pflegekassen müssen sicherstellen, daß nicht mehr als fünf Prozent der Pflegebedürftigen der höchsten Pflegestufe die Härtefallregelung beanspruchen dürfen. „Es ist nicht erkennbar, wie diese Regelung in der Praxis umgesetzt werden soll, kritisierte gestern der Pressesprecher der Berliner AOK, Friedrich Abraham. „Wer soll nach welchen Kriterien eine Auswahl treffen?“
Ähnlich widersprüchlich ist die Regelung bei der ambulanten Pflege. Hier wurde die Kostenübernahme für Pflegeleistungen durch Sozialstationen zwar von 2.100 auf 2.250 Mark erhöht, zugleich wurde aber eine Obergrenze festgelegt: Insgesamt dürfen die jährlichen Ausgaben der Pflegekassen pro Pflegebedürftigen 30.000 Mark nicht überschreiten. Und auch hier dürfen die Pflegekassen die Härtefallregelung in Höhe von maximal 3.750 Mark nur auf drei Prozent der Pflegebedürftigen anwenden. Da die Leistungen der Pflegeversicherung in den meisten Fällen den tatsächlichen Bedarf nicht abdecken werden, „wird ein höherer Bedarf die Regel“ sein, prognostizierte Klaus Hackbarth von der AOK Berlin. Er äußerte auch Bedenken, ob die Beitragseinnahmen der Pflegeversicherung ausreichen werden, um die vorgesehenen Leistungen zu bezahlen. Darüber lägen „keine verläßlichen Zahlen“ vor“.
Michael Eggert, Sprecher des Berliner „Spontanzusammenschlusses Mobilität für Behinderte“, erläuterte bei der gemeinsamen Pressekonferenz, warum die Pflegeversicherung für Behinderte eine Verschlechterung bringt. Weil die Leistungen der ambulanten Pflege vor allem bei der Rund-um-die-Uhr-Pflege nicht ausreichten, sei zu befürchten, daß Schwerstpflegefälle verstärkt ins Heim abgeschoben würden. Die Selbsthilfegruppe forderte erneut ein am Bedarf orientiertes, steuerfinanziertes Pflegegesetz. Außerdem dürfe auch bei einer Einführung der Pflegeversicherung das sechsstufige Berliner Pflegegeld nicht abgeschafft werden. Nach Eggerts Einschätzung würden die Pflegeberechtigten der ersten drei Stufen leer ausgehen, bei Stufe drei bis sechs würden die Betroffenen von der Pflegeversicherung weniger als bisher bekommen. Ein Termin für ein erneutes Vermittlungsverfahren stand gestern noch nicht fest. Dorothee Winden
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen