Menschenversuche gehören zum Atomstaat

■ Außer den US-Behörden haben auch die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion bei ihren Atomversuchen Menschen eingesetzt

Der Mann war nur mit einer Badehose und einem Schnorchel bekleidet. Er nahm beherzt Anlauf und sprang in den See – in den strahlenden See. Jener See war nämlich bei sogenannten zivilen Atomversuchen in die sibirische Landschaft gesprengt worden. Der Menschenversuch nach dem Atomversuch sollte beweisen: Alles ganz harmlos. Kommentar des westlichen Dokumentarfilmers, der den jahrzehntealten Streifen in den Archiven fand: „Über sein Verbleiben ist nichts bekannt.“

Versuche wie jener in der UdSSR und die jetzt in den USA bekanntgewordenen gehören zur Geschichte des Atomstaats. Immer wieder opferten Militärs und Forscher Menschen für ihren atomaren Fortschritt – auch sich selbst. Dazu gehörten Soldaten, Uranarbeiter in den Minen genauso wie Kinder, Behinderte und Ureinwohner, die, wie die neuen US-Berichte zeigen, zu Versuchskaninchen gemacht wurden.

Am meisten weiß man heute über die soldatischen Versuchskaninchen. „Die haben uns ungeschützt der Strahlung ausgesetzt, um die Wirkung der Atombomben auf die Soldaten und das Waffenmaterial zu überprüfen“, erklärt Peter Fletcher, Vizepräsident der British Nuclear Test Veterans Association. Nach den Berechnungen der Veterans haben 40.000 bis 50.000 britische Soldaten von 1952 bis 1958 an 21 oberirdischen Tests teilgenommen. „Die waren als Augenzeugen da, bei den Aufräummannschaften und bei denen, die die Tests vorbereitet haben“, so Fletscher gestern gegenüber der taz.

Die Briten hätten ihre damaligen Versuche oberirdisch auf den Monte-Bello-Inseln vor der Westküste Australiens, in Maralinga in Südaustralien und auf den Weihnachtsinseln durchgeführt. Das Testziel sei geheimgehalten worden, erst vor kurzem sei die Geheimhaltung für das entsprechende Regierungsdokument aufgehoben worden. Testopfer der Briten sind auch die Aborigines, die bei Maralinga lebten, wo zwischen 1952 und 1958 neun solcher Tests stattfanden. Einige von ihnen werden inzwischen von der australischen Regierung für ihre Strahlenschäden entschädigt. Die hatte in den fünfziger Jahren den britischen Tests zugestimmt.

Auch von den anderen offiziellen Atombombenmächten Frankreich, USA und der UdSSR sind solche Menschenopfer per Atomversuch bekannt. Bei den Chinesen gibt es hinreichend Hinweise, daß auch sie solche Menschenversuche durchgeführt haben. Wie viele der rund eintausend Atomtests der vierziger, fünfziger und frühen sechziger Jahre solchen Zwecken dienten, das ist allerdings nicht bekannt. Die US-Amerikaner beispielsweise sprengten im Beisein von Soldaten mit Atom- und später Wasserstoffbomben einzelne Bikini-Inseln im Pazifik in die Luft, ohne die Ureinwohner der Nachbarinseln rechtzeitig zu informieren. Der verstorbene US-Journalist Paul Jacobs berichtet in einem beeindruckenden Film davon, wie US-Soldaten genötigt wurden, auf dem Atomtestgelände in Nevada in Schützengräben möglichst nahe an den Kern einer Atomexplosionen heranzukriechen. Augenzeugen berichten, wie sie im hellen Strahl der Explosion durch ihre Hand wie auf einem Röntgenfilm sehen konnten. Schon Ende der siebziger Jahre räumte das Pentagon ein, daß bis zu 200.000 Soldaten als Beobachter von Atomtests in Nevada und auf den Pazifikinseln dabei waren.

In den sechziger Jahren hatten die Sowjets für einen Versuch 40 gesunde Männer ausgewählt, um sie während eines Tests auf das kasachische Testgelände Semipalatinsk zu schicken. „Nach acht Stunden kamen sie wieder. Man gab ihnen Wodka und fragte, wie sie sich fühlten. Von diesen Männern lebt heute keiner mehr“, so ein kasachischer Bauer 1990 auf einem Ärztekongreß in Bonn. Die Franzosen testeten ihre Atomwaffen bis zur algerischen Unabhängigkeit in der Sahara und verlegten von 1966 bis 1975 die oberirdischen Tests auf das Mururoa-Atoll im Südpazifik. Seither wird dort unterirdisch getestet. An beiden Orten wurden Ureinwohner verstrahlt und erlitten gesundheitliche Schäden. Doch Gesundheitsakten sind nicht aufzufinden oder werden nicht mehr angefertigt. Staatlich sanktionierte Atomversuche sollten aber nicht nur herausfinden, wie sehr atomare Strahlung Leben und Gesundheit der ihr ausgesetzten Menschen (Soldaten) beeinträchtigt und in welchen Zeiträumen eine solche Beeinträchtigung auftritt. Sie sollten in vielen Fällen auch der unwissend gehaltenen Bevölkerung demonstrieren, daß eine gesundheitliche Gefahr gar nicht oder nur minimal existiere.

Ob wissend, wie bei vielen Soldaten, oder unwissend, ob freiwillig oder nicht, eine Maxime galt immer: die Gefahr sollte geheim bleiben. Hunderttausende von Akten über die Opfer der Atomstaaten liegen in den Geheimarchiven dieser Länder. 430.000 Menschen werden nach einer Schätzung der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) bis zum Jahr 2000 diesen frühen Atomtests zum Opfer fallen. Doch öffentlich wurden und werden immer nur Einzelfälle. Wie der des US-Arztes und der betreuenden Krankenschwestern, die drei Jahre im Gefängnis festgehalten wurden, nachdem sie einen Plutoniumforscher in seinem tödlichen Delirium betreut hatten. Die Gefahren des Teufelszeugs sollten nicht öffentlich werden.

Die Sowjetunion nahm ihren ersten Atomtest 1949 in der Nähe von Semipalatinsk vor. Mehrere hundert weitere Tests folgten, daneben über 100 sogenannte zivile Atomexplosionen zur Umleitung von Flüssen und zur Gewinnung von Rohstoffen, vor allem Erdgas. Zu jener Kategorie von Atomtests gehört auch die Herbeisprengung jenes Sees, in dem der Badende mit dem Schnorchel planschte. Solche zivilen Atomtests sollten die Oberfläche der Erde verändern. Auch sie bleiben bei all der Gefährdung der Bevölkerung nicht etwa der Diktatur UdSSR vorbehalten. Auch in den USA wurden in Nevada solche Explosionen vorgenommen, sinnigerweise unter dem Namen Pflugschar-Programm.

Wie verbreitet die Versuche gewesen sein müssen, zeigt ein Buch von Bodo Manstein. Der berichtet, schon in den siebziger Jahren hätten sich Hunderte US-Amerikaner für Untersuchungen nach ihrem Tod bereit erklärt, bei denen die Plutoniumanreicherung in ihrem Körper gemessen werden sollte. Selbstverständlich kam man damals von offizieller Seite zu dem Ergebnis, daß alle untersuchten Leichen zwar Plutonium in ihren Lymphknoten hatten, aber die Personen auf „natürliche“ Art und Weise ums Leben kamen. Manstein kommentierte trocken: Die Gesundheitsforschung habe sich ausführlich mit dem Plutonium befaßt, „vornehmlich aus militärischen Aspekten heraus“. Hermann-Josef Tenhagen