Eine Abfolge unvermeidbarer Schicksalsschläge

■ Anklage: versuchter Totschlag eines Stadtstreichers / Motiv: Alkohol, Gleichmut ...?

Ein Mensch, der sein Leben als Abfolge unvermeidlicher Schicksalsschläge hinnimmt –unbeteiligt, gleichgültig, resignativ, gar routiniert? Sichtbare Gefühle zeigte der 50jährige Winfried B. gestern im Hamburger Strafjustizgebäude jedenfalls nicht. Angeklagt ist er wegen versuchten Totschlags: Am 30. August vergangenen Jahres hat er den Wohnungslosen Klaus E. nach einem Streit mit seinem Messer in Hals und Rücken gestochen. Dies hatte er dem Haftrichter nach der Tat gestanden.

Eine schmächtige Gestalt unter den grellen Deckenlichtern des überdimensionierten Gerichtssaals, verloren wirkt der Teppichreiniger aus St. Pauli vor dem klobigen Richtertisch. Wieviel Täter, wieviel Opfer steckt in diesem Mann? Der Vorsitzende Richter Gerhard Schaberg versucht dies mit einfühlsamen Fragen herauszufinden. Doch der Beschuldigte macht es ihm schwer. Zur Anklage will er sich nicht äußern, und auch sonst bleibt er einsilbig. Wohl weniger aus Trotz – vielmehr scheinen Worte, Erklärungen und Motivsuche fremdes Terrain für den gelernten Bauschlosser.

Tief scheint er in Gleichmut gegen seine Vergangenheit und Zukunft versunken. Ein Leben, das wie eine Aneinanderreihung von unabwendbaren Unglücksfällen wirkt, blättert Richter Schaberg anhand der Akten auf. Ein Auf und Ab, das vom Alkohol bestimmt ist, eine Aufzählung gleichlautender Promillezahlen. 2,7 Promille hatte er inne – „ungefähr 20 halbe Liter Bier und ein paar Korn“ –, als er im vergangenen Sommer abends in einer Grünanlage in St. Pauli auf den Stadtstreicher E. einstach. Über zwei Promille im Blut waren es auch jedesmal bei den Straftaten der vergangenen Jahre. Mindestens zehn Verurteilungen zählt der Richter auf. Ob er ein Alkoholproblem habe, fragt er den Angeklagten. Kopfschütteln, Achselzucken. „Hab' immer nur getrunken, wenn ich losgezogen bin, am Wochenende.“

Sein „ungezwungener Lebenswandel“ sei schuld an der ersten Scheidung gewesen, seine Züge durch die Kneipen – „auch ohne die Frau“. Nach acht Jahren auf See hatte er Anfang der 70er Jahre einen Job auf einer Hamburger Werft. Doch nach der Trennung war Schluß mit den geordneten Verhältnissen. Offensichtlich bemüht, eine Brücke zu bauen, fragt Schaberg: „War die Scheidung ein schlimmer Schlag für Sie?“ „Wie soll ich das hingenommen haben?“ – wieder nur Achselzucken. „Nach der Trennung scheint Ihr Leben doch etwas durcheinandergeraten“, beharrt der Richter. „Was soll ich dazu sagen?“

Der Fall Winfried B. ist einer von denen, die die Ohnmacht der Justiz angesichts der scheinbar unausweichlichen Spirale aus Alkoholismus, kriminellen Vergehen im Suff, unzähligen Verurteilungen wegen Diebstahls und Körperverletzungen sichtbar macht. Bei B. summierte es sich schließlich zu rund sechs Jahren Haft und weiteren Jahren auf Bewährung.

Zweieinhalb Jahre hat es der hagere Mann nach seiner letzten Verurteilung im Jahr 1990 in den sogenannten geordneten Verhältnissen geschafft. „Immer rein und raus aus dem Knast, nur wegen so 'nem Scheiß. Hab' damals eingesehn, daß es so nicht weitergeht.“ Der Job als Teppichreiniger hat ihn vom täglichen Suff abgehalten, jetzt wird nur noch am Wochenende durchgezogen. Auf die nochmalige Frage des Richters nach dem Alkoholproblem folgt nur wieder das Kopfschütteln. Der Sachverständige erklärt der Staatsanwältin später in der Pause, daß der Angeklagte für die Selbsterkenntnis, daß er Trinker ist, wohl noch nicht weit genug sozial abgestiegen sei.

Ein Abstieg, der ihm noch bevorstehen kann. Zwar konnten die Augenzeugen und das Opfer, das den Angriff überlebt hat, gestern nicht gehört werden, da sie als Wohnungslose nicht aufzutreiben waren. Doch die Beweislage scheint klar. Messer und blutverschmierte Kleidung wurden sichergestellt und ein Geständnis vor dem Haftrichter liegt vor. Klaus E. habe die Lebensgefährtin angepöbelt, dieser karge Satz wird dem Gericht wohl als Erklärung für die Tat genügen müssen. Das Urteil, das nächste Woche gesprochen wird – wieder nur ein unabwendbarer Abwärtsschwung in einer endlosen Spirale?

Sannah Koch