Behalten Sie halt Ihre Nase!

■ Bremer Pathologen verscherbeln trotz Bedarf keine „kleinen Leichenteile“

Stellen Sie sich vor, Sie knallen mit der Nase gegen die Windschutzscheibe. Oder eine chronische Entzündung hat Ihr Hörknöchelchen zerfressen. Oder - noch schlimmer - ihre Augenhornhaut droht zu platzen... Woher ein neues Hörknöchelchen und Augenhornhäute nehmen?

In Bremen ist die Transplantation solcher Teile seit einem Jahr schwieriger geworden. Denn seit einem Jahr dürfen Bremer PathologInnen nicht mehr einfach so die sogenannten „kleinen Leichenteile“ an Bremer Kliniken abgeben. Damit handeln dürfen sie schon erst recht nicht.

Seit einem Jahr gilt in Bremen ein neues Gesetz, das „Gesetz über das Leichenwesen“. Seitdem müssen Angehörige nicht nur vor der Entnahme von ganzen Organen gefragt werden, sondern auch vor der Entnahme von kleinen Leichenteilen wie Hirnhaut, Hörknöchelchen, Knorpeln oder Augenhornhaut. Nirgends sonst in der Republik ist eine ausdrückliche Zustimmung der Angehörigen oder des Verstobenen zu Lebenszeiten zur Entnahme der Kleinteile nötig. Die Entnahme wird einfach so vorgenommen - wie gerade diese Woche etwa der Kieler Pathologie-Professor Manfred Dietel im „Spiegel“ zugab. Notwendige Voraussetzung ist außerhalb Bremens nur das Ja der Angehörigen zur Obduktion.

Früher haben die Bremer PathologInnen durchaus Leichenteile herausgerückt. „Die Augenklinik hat oft händeringend bei uns angerufen“, erzählt der Gerichtsmediziner Michael Birkholz vom Hauptgesundheitsamt. Er obduziert Leichen, bei denen zum Beispiel Verdacht auf Mord oder Totschlag besteht. Früher, nämlich bis vor zehn Jahren, gab man etwa Hirnanhangsdrüsen gegen eine Aufwandsentschädigung an die Industrie, die daraus Wachstumshormone für kleinwüchsige Kinder herstellte. Heute könne man diese Hormone gentechnisch herstellen, sagt Hanns Gunschera, der ärztliche Direktor des Zentralkrankenhauses St.-Jürgen-Straße. Früher, nämlich bis vor vier Jahren, gab man auch Hirnhäute zur Abdeckung von Hirnhautverletzungen weiter - zum Beispiel an die Firma Braun-Melsungen in Hessen. Heute nehme man dafür „vor allem“ Kunststoffpräparate, sagt Gunschera.

Gebraucht werden aber nach wie vor echte Hörknöchelchen und Augenhornhäute. Aus der Pathologie bekommen die Bremer Kliniken jedoch keine mehr. Die Hals-Nasen- Ohren-Klinik hat einen jährlichen Bedarf von „einigen hundert“ Ohrknöchelchen, sagt Reinhard Chilla, ärztlicher Direktor der HNO-Klinik. Man behilft sich mit Ersatzteilen aus Keramikverbindungen - „eine nicht soo tolle Alternative“, weil das Material eben einfach nicht so gut angenommen werde wie körpereigenes Gewebe. Nur in Sonderfällen kauft die HNO-Klinik von einer Firma echte Knöchelchen. „Die haben das wohl aus dem Ausland“, mutmaßt Chilla.

Schwieriger ist laut Chilla der künstliche Ersatz von Nasenknorpeln. Wenn durch Unfälle Teile des Nasengerüstes zerstört sind, muß die Klinik neue Knorpel entweder für rund 600 Mark bei einer Firma beziehen. Oder dem Patienten ein Stück Rippe entnehmen und daraus einen Knorpel basteln, was zwei Operationen bedeutet.

Nur die Augenklinik ist durch das neue Leichengesetz in echte Schwierigkeiten geraten: Die Erfahrungen mit künstlichen Hornhäuten waren offenbar alles andere als befriedigend. Mithilfe eines extra eingerichteten Augenärztenotdienstes scheint es jedoch gelungen zu sein, genügend Angehörige von Verstorbenen überzeugen zu können. Der Notdienst reist an, wenn in einer Klinik ein Mensch verstorben ist und erklärt den Angehörigen, was bei einer Hornhautentnahme passiert und daß der verstorbene Mensch anschließend ein Glasauge eingesetzt bekomme.

Während das Bremer Gesundheitsressort sehr stolz ist auf das neue Gesetz, das einen rechtlosen Zustand beendet, kritisiert etwa Wolfgang Oehmichen vom Berufsverband deutscher Pathologen das Bremer Vorpreschen: „Das höherwertige Rechtsgut ist doch das Augenlicht des Lebenden und nicht der Anspruch der Angehörigen auf eine unversehrte Leiche - das kann doch keine ärztlich-ethische Entscheidung sein, wenn ein Patient erblindet.“ Er weiß gar von einem bayerischen Pathologe zu berichten, der angezeigt wurde wegen unterlassener Hilfeleistung, weil er eine Hornhaut nicht entnommen hat.

Doch für solche Notfälle hält das Bremer Leichengesetz einSchlupfloch bereit: Im äußersten Notfall, wenn also eine Patientin plötzlich zu erblinden droht, dürfen die die Bremer ÄrztInnen auch erst nachträglich die Angehörigen des Verstorbenen um Zustimmung zur Hornhaut-Entnahme ersuchen. Matthias Gruhl vom Gesundheitsressort ist solch ein Fall aber noch nie zu Ohren gekommen.

Christine Holch