Aufgeklärte Abendlandsmenschen Von Klaudia Brunst

Alles in allem hatten wir den Jahreswechsel gut überstanden. Keine sentimentale Rückschau, keine guten Vorsätze, kein orakelndes Bleigießen. Gemütlich hatten wir im Wohnzimmer gesessen und gute Bücher gelesen, bis die Silvesterkracher den Hund dazu veranlaßten, doch noch unseren festlich geschmückten Baum zu ruinieren. „Aha“, meinte meine Freundin, „jetzt ist es also zwölf.“ Da hatten wir die Bücher beiseite gelegt, die Nadeln zusammengefegt und waren ins Bett gegangen.

Aber so ein Jahreswechsel läßt sich nicht ignorieren. Irgendwie schleicht er sich immer ein. In unserem Fall hatte er sich in der Fernsehzeitung versteckt, und meine Nachbarin, die ursprünglich nur kurz „schönes neues Jahr“ wünschen wollte und nun interessiert in der Funk-Uhr blätterte, hatte ihn dort gefunden.

„Ah, das Jahreshoroskop!“ rief sie so befriedigt, als hätte sie sich nur deswegen auf unser Sofa bemüht. „Liebe: Im März schlagen Widder- Herzen schneller als sonst“, las sie mir vor, und daß mich schon bald ungewöhnliche Leidenschaft packen werde. „Aha?“ meldete sich meine Freundin entzückt aus der Küche, „und wie geht es weiter?“ „Im Mai wird sie ihre Beziehungen kräftig aufmischen“, brüllte meine Nachbarin eilfertig in Richtung Küche, „und im Herbst wird sie sich dann entscheiden müssen.“

„Was heißt eigentlich ,Beziehungen‘?“ fragte meine Freundin, die plötzlich mit zusammengekniffenen Augen vor uns stand und jetzt unablässig mit dem Mixuqirl vor meinen Augen herumfuchtelte. „Tja, das riecht schon deutlich nach aufwühlender heimlicher Leidenschaft!“ erläuterte meine Nachbarin hilfsbereit. „Paßt alles perfekt zusammen. Bei dir steht nämlich, daß du Geduld für deinen Partner aufbringen mußt.“

Für den Bruchteil einer Sekunde wurden die Augen meiner Freundin zu schmalen Sehschlitzen. Aber sie faßte sich schnell. Wortkarg erklärte sie uns, daß sie als aufgeklärter Abendlandsmensch sowieso weder an Tarotkarten noch Horoskope glauben könne und daß sie deshalb jetzt wieder in die Küche gehen werde. „Wir werden ja sehen“, schnauzte meine Nachbarin, die diese Spitze sehr wohl verstanden hatte, „wenn dein Herzblatt“ (damit war offenbar ich gemeint) „erst einmal diese junge Rechtsanwältin – wie heißt sie noch gleich? – herumgekriegt hat, dann wirst du noch an meine Worte denken.“

„Rechtsanwältin“ war kein gutes Stichwort gewesen. Punktum kehrte meine Freundin, nun mit einem Kochlöffel bewaffnet, ins Wohnzimmer zurück. „Das ist die Höhe“, rief sie, plötzlich den Tränen nahe, „während ich dir deinen Lieblingspudding koche, betrügst du mich ausgerechnet mit dieser blöden Arschkuh!“

Sie hatte ihre Sachen fast schon alle gepackt, als ich selbst endlich noch einen Blick in die Zeitung werfen konnte. „Gestatten Sie sich zärtliche Gefühle“, stand unter meinem Sternzeichen, „auf Ihre Liebe zu Ihrem Partner ist 100 Prozent Verlaß.“ Unsere Nachbarin hatte sich in der Zeile geirrt.

„Ganz beruhigt bin ich aber noch nicht“, erklärte meine Freundin, als wir später friedlich beim Pudding saßen. „Unter Beruf/ Geld steht nämlich, daß du aus beruflichen Gründen für längere Zeit ins Ausland mußt. Da frage ich mich doch: Was wird dann eigentlich aus mir und dem Hund?“