■ Pavel Bratinka, stellvertretender Außenminister der Tschechischen Republik, zur Relevanz eines Nato-Beitritts
: Die Schatten von München

taz: Herr Bratinka, warum liegt der Tschechischen Republik soviel daran, Mitglied der Nato zu werden?

Pavel Bratinka: Die Nato ist eine erprobte Organisation, die Westeuropa 40 Jahre lang vor der sowjetischen Aggression beschützt hat. Sie ist ein Zusammenschluß demokratischer Länder, die im Konsensverfahren handeln. Auch wenn heute gesagt wird, es gebe in Europa im Moment keine Bedrohung mehr – die Nato ist in der Lage, die Sicherheit ihrer Mitglieder zu garantieren, ganz egal, woher eine Gefahr droht. Denken Sie an den Golfkrieg.

Wie immer es vom Westen aus für Sie aussehen mag, unsere Region ist alles andere als stabil. Die Menschen fühlen sich nicht sicher. Die einzige Organisation, die Sicherheit bieten kann, ist die Nato. Wir brauchen die Nato aber noch aus einem anderen Grund: Sie hält die USA in Europa. Das letzte Jahrhundert hat wohl hinreichend klargemacht, daß Europa ohne die Amerikaner ein sehr gefährlicher Platz ist.

Die Nato wurde in einer bestimmten historischen Situation gegründet und für den Kalten Krieg aufgebaut. Wäre es nicht sinnvoller, nach neuen, zeitgemäßen Organisationen zu suchen, die die Sicherheit Europas garantieren?

Es stimmt, daß die Nato – Gott sei Dank – in einer bestimmten Situation unter großem Druck gegründet wurde. Ohne massiven Druck wäre es nie dazu gekommen. Aber gibt es jetzt für Europa etwa keine Feinde mehr?

Ist Rußland für Sie ein feindliches Land?

Im Moment nicht. Unsere Feinde sind Nationalisten, die sich gegenseitig angreifen und die Region destabilisieren.

Genau degegen ist die Nato doch keine Versicherung.

Nein, das stimmt nicht. Die Nato wäre als Organisation in der Lage, im ehemaligen Jugoslawien einzugreifen, aber sie ist nicht bereit zu handeln. Das ist aber eine Diskussion darüber, was sie tun sollte, und nicht, wozu sie in der Lage ist. Ohne die Struktur und Erfahrung der Nato ist Sicherheit für Europa nicht denkbar.

Unser Problem im Moment sind die allgemeine Unsicherheit und die Extremisten der verschiedenen Lager. Denken Sie an Schirinowski in Rußland.

Wird nicht in der Öffentlichkeit hier geradezu eine Panikstimmung erzeugt, wenn beispielsweise Verteidigungsminister Baudyš sagt: Die USA glauben, der Kommunismus sei tot, das stimmt aber nicht, Rußland kann jederzeit wieder unser Gegner werden. Ist das nicht Panikmache?

Sie sprechen von der sicheren Seite. Wir haben unser Gedächtnis, und wir erinnern uns an 1947 und an 1968. Was wir jetzt beobachten, ist, wie aus den Kommunisten von einst die Nationalisten von morgen werden. Das meint Baudyš, wenn er den Westen warnt. Aus unserer Sicht hat die Nato außer dem Schutz vor äußeren Feinden und der Verankerung der USA in Europa noch einen weiteren Zweck, über den selten öffentlich geredet wird: Die Nato muß Europa vor sich selbst schützen. Die Nato muß verhindern, daß in Europa wieder eine Bündnispolitik gegeneinander Platz greift, wie es vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg der Fall war.

Warum versucht die Tschechische Republik nun ihren Nato- Beitritt im Alleingang zu betreiben und nicht mehr als Projekt der Višegrad-Staaten?

Nun, weil die Nato niemals Länder akzeptieren wird, die nicht bestimmte Kriterien erfüllen. Es wird nur Stück für Stück gehen. Das ist aber auch nicht so schlimm. Wenn ein ehemals kommunistisches Land Osteuropas – ich hoffe, es wird mein Land sein – Nato-Mitglied wird, wird das erhebliche Auswirkungen in der gesamten Region haben. Warum? Der Westen hätte damit den Rubikon überschritten, wäre aus der Sphäre schöner Worte und vager Versprechungen zu konkreten Taten übergegangen.

Und Sie glauben, die Nato wird den Schritt über den Rubikon tun?

Wir gehen nicht davon aus, daß wir bei dem bevorstehenden Gipfel eine Mitgliedsurkunde ausgehändigt bekommen. Aber wir rechnen mit Licht am Ende des Tunnels, und das wäre auch für andere Länder in der Region eine ermutigende Entwicklung. Wir stellen uns diese Entwicklung in zwei Phasen vor. Zuerst eine generelle Entscheidung. Ist die positiv, gibt es einen konkreten Prozeß, der bei den unterschiedlichen osteuropäischen Ländern unterschiedlich lang dauern wird. Da muß sich jedes Land selbst präsentieren, da geht es um finanzielle, waffentechnische und andere Probleme, gemeinsame Ausbildung etc. Wir gehen davon aus, daß die Nato unseren Beitritt als einen Gewinn für alle erkennt. Wir wollen in der Nato nicht als blinder Passagier mitfahren, für den andere zahlen.

Ist es für Sie denkbar, daß sich die Nato so weit wandelt, daß auch Rußland Mitglied des Clubs werden könnte?

Die Nato muß natürlich darauf achten, aktionsfähig zu bleiben. Länder, die dazugehören wollen, sollen sich selbst prüfen, ob sie gewillt sind, sich den Regeln der Nato anzupassen, und ob sie dazu in der Lage sind. Wenn es so ist, sollen sie Mitglied werden. Niemand wird heute seriös behaupten wollen, daß Rußland diesen Kriterien entspricht. Warten wir es ab. Wenn die Russen ihre Reformen abgeschlossen haben, stabile Institutionen sich herausgebildet haben, könnte die Frage einen Sinn machen.

Der Westen sollte jetzt lieber die Ansätze von demokratischen Institutionen in Rußland unterstützen. Schirinowski hatte eine Million Dollar für seinen Wahlkampf zur Verfügung, weit mehr als die demokratischen Parteien. Wo sind die Milliarden und Milliarden Dollar geblieben, die der Westen der russischen Regierung zur Verfügung gestellt hat? Der Westen soll Stipendien für Russen vergeben, damit sie Erfahrungen mit dem demokratischen System machen können, damit möglichst viele Leute in der Praxis erfahren, wie parlamentarische Demokratie eigentlich funktioniert.

Hat die tschechische Regierung in den vergangenen zwei Jahren in Brüssel jemals eine ernsthafte Antwort auf die Frage nach einer Mitgliedschaft erhalten?

Alle offiziellen Erklärungen der Nato seit dem Gipfel im Juni 1990 in London zeigen eine zunehmend größere Öffnung uns gegenüber. Es ist eine langsame Öffnung, aber sie findet statt. Was wir erwarten, ist ein Angebot des Westens an die osteuropäischen Länder, in denen gesagt wird, unter den und den Voraussetzungen, wenn ihr diese und jene Kriterien erfüllt, könnt ihr Mitglieder werden. Das wäre eine gute Botschaft. Daraufhin könnte eine assoziierte Mitgliedschaft in die Wege geleitet werden, eine engere institutionalisierte Zusammenarbeit stattfinden.

Allein eine solche Erklärung würde bereits erhebliche Sicherheit in der Region schaffen und den Ländern eine konkrete Perspektive geben. Wir, Polen und Ungarn noch dringender als die Tschechische Republik, wir brauchen eine starke Botschaft. Das würde die Extremisten und Nationalisten zurückdrängen und verhindern, daß die alten Konflikte wieder hochkommen.

Wie sähe die Alternative zur Nato aus, warum bilden die osteuropäischen Staaten kein eigenes Bündnis, welches dann mit der Nato kooperiert?

Die Nato hat die Erfahrung und die Infrastruktur, und wenn jedes Land seine Armee Nato-kompatibel macht, können die Länder auch automatisch untereinander zusammenarbeiten. Deshalb ist der Nato-Beitritt der realistische Weg. Auch aus politischen Gründen – denken Sie an die Konflikte zwischen der Slowakei und Ungarn – wäre ein solcher Zusammenschluß, ein Bündnis osteuropäischer Staaten, kaum möglich. In Westeuropa hat es auch nur geklappt, weil die USA viel Druck gemacht haben und die sowjetische Bedrohung so massiv war. Nein, das ist kein realistischer Weg.

Eine Botschaft der Nato, die besagt, wir wollen euch nicht, löst eure Probleme alleine, wäre eine Desaster für die Region. Vor allem die Reformstaaten kämen in eine große Krise. Die demokratischen Bewegungen sind alle mit dem Slogan an die Macht gekommen, jetzt werden wir wieder ein Teil Europas, ein Teil der westlichen Welt. Wenn die Reformer jetzt verraten werden, kommt die Stunde der Nationalisten – wie schon einmal in der Geschichte.

Sie sprechen von Verrat. Verstehen wir Sie richtig? Sie meinen, wenn Sie jetzt vor der Tür bleiben müssen, wäre das eine Wiederholung von München 1938?

Ja, genau, für uns ist es mit dem Münchener Abkommen und dem Vertrag von Jalta vergleichbar. Es gibt so viele politische Desperados, die nur darauf warten, Unfrieden zu säen, die sudetendeutsche Frage hochzuspielen und den Westen für angebliche Fehler in der Geschichte anzuklagen. Eine Zurückweisung durch den Westen wäre wie der Schatten von München.

Wäre für Sie die Mitgliedschaft in der Nato wichtiger als in der Europäischen Union?

Das sind zwei unterschiedliche Probleme, die nicht alternativ diskutiert werden können. Bisher hat auch noch niemand zu uns gesagt, wir müßten uns zwischen der Aufnahme in die Nato oder die Europäische Union entscheiden. Wäre das so, hätten wir sicher eine heftige Debatte mit ganz konträren Präferenzen. Bisher sind wir aber mit einem solchen Dilemma nicht konfrontiert. Interview: Jürgen Gottschlich

und Tomas Niederberghaus