Mexiko sucht nach den Sündenböcken

Die Offensive gegen die Aufständischen erschwert die Suche nach politischen Lösungen  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Im Neujahrskrieg im mexikanischen Bundesstaat Chiapas setzt die Regierung jetzt auf eine militärische „Lösung“. Von der „unmittelbar bevorstehenden“ Normalisierung des krisengeschüttelten Südostzipfels des Landes – wie sie Armeesprecher und Regierungsfunktionäre in regelmäßigen Abständen der besorgten Bevölkerung und den MedienvertreterInnen verkündeten – kann inzwischen keine Rede mehr sein. Im Gegenteil: die in den ersten Morgenstunden dieses Jahres ausgebrochenen Kämpfe zwischen indianischen Guerilleros und den mexikanischen Streitkräften halten auch die immerhin 20 Autostunden entfernte Bundeshauptstadt zunehmend in Atem.

Fernsehen und Radio berichten stündlich über die Frontverläufe aus den umkämpften Gebieten. Die immer dramatischeren Titelblätter aller großen Tageszeitungen wie auch die Debatten im Abgeordnetenhaus kennen seit Tagen kein anderes Thema als die Feuergefechte, Straßenblockaden, Brandstiftungen und Bombardements im entlegenen Chiapas.

War noch am Vortag stolz über die „vollständige Befriedung“ der Landeshauptstadt Tuxtla Gutierrez informiert worden, so wurde am Dienstag kurzerhand die Sperrung ihres Flughafens für sämtliche nichtmilitärischen Flüge angeordnet. Die wichtigsten Zufahrtsstraßen der Hauptstadt sind mit einem weitläufigen Gürtel aus Armeefahrzeugen besetzt, auch Journalisten werden zurückgewiesen.

Über die angebliche Räumung der besetzten Gemeinden äußerten sich Sprecher des Verteidigungsministeriums inzwischen verdächtig zurückhaltend: die Armee sei weiterhin dabei, die Aufständischen „zurückzudrängen“. Die Zahl der Opfer war gestern auf 93 gestiegen. Fast zwei Drittel stammen aus den Reihen der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN).

Nach Aussagen der lokalen Diözese begann die Bombardierung der Umgebung von San Cristóbal am frühen Dienstag abend. Die Versorgung mit Strom, Wasser und Kommunikation – besonders im schwer umkämpften Ocosingo – wird zunehmend prekär. Vertreter der kirchlichen Basisgemeinden berichten, daß die verschreckte Bevölkerung – in den betroffenen Gebieten leben eine halbe Million Menschen – inzwischen eher vor der Armee als vor den Aufständischen auf der Flucht ist. Der am zweiten Tag entführte Ex-Gouverneuer Absalón Castellanos befindet sich offenbar nach wie vor in der Gewalt der Rebellen, seine Ehefrau dagegen wurde mittlerweile freigelassen.

An die 12.000 Soldaten mit schwerer Artillerie aus den benachbarten Bundesstaaten sind bislang in das Krisengebiet vorgerückt – immerhin fast 10 Prozent der gesamten mexikanischen Armeereserven. Auch das in Sachen Counterguerilla wesentlich erfahrenere guatemaltekische Nachbarland hat seinerseits an der Grenze Spezialtrupps in Alarmbereitschaft versetzt.

Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die von offizieller Seite hartnäckig lancierten Behauptungen über ominöse „ausländische Interessen“ und die Beteiligung zentralamerikanischer Untergrundbewegungen, besonders der guatemaltekischen Guerilla URNG, die den Konflikt auf mexikanischem Territorium „von außen“ geschürt hätten. Dagegen bestreiten URNG-Vertreter in ersten Presseerklärungen jede Verbindung mit dem Aufruhr in Chiapas. Schließlich sind die zentralamerikanischen Flüchtlings- und Befreiungsbewegungen von jeher auf eine gute Beziehung zur mexikanischen Regierung angewiesen. Mittlerweile räumen allerdings auch Sprecher des mexikanischen Außenministeriums ein, daß bislang „keinerlei Beweise für die Beteiligung der URNG“ vorliegen.

In der Suche nach Schuldigen hatten Sprecher der Landesregierung außerdem die perfide Vermutung geäußert, die kirchlichen Basisgemeinden – die sich mehrheitlich als Teil einer „Kirche der Armen“ begreifen und der Befreiungstheologie nahestehen – hätten dazu beigetragen, „Uneinigkeit“ in die Region zu tragen und den Guerilleros sogar handfeste Infrastruktur zur Verfügung gestellt.

Trotz der ununterbrochenen Berichterstattung über den Aufstand der Indianer in Chiapas bleiben zur Stunde mehr Fragezeichen als Antworten. Besonders im unabhängigen Teil der Landespresse – im größtenteils regierungstreuen Fernsehen wird weiterhin das Bild einer Handvoll durchgeknallter Pistoleros vermittelt – werden inzwischen eine Reihe von unbequemen Fragen gestellt. Woher rührt etwa die vergleichsweise moderne Ausrüstung und die militärische Logistik der Aufständischen – die bislang immerhin drei Militärhubschrauber abschießen konnten –, wenn diese doch von offizieller Seite zunächst nur als ein paar hundert „des Spanischen nicht mächtige“ Indianer bezeichnet wurden?

Einigermaßen unverständlich bleibt auch, warum die militärischen Geheimdienste der Region, die angeblich seit Monaten von der bewaffneten Mobilisierung Kenntnis hatten, sich über eine so lange Zeit in Stillhaltetaktik geübt hatten. Wie weit geht das Bestreben der mexikanischen Obrigkeit, jeden Hinweis auf eine, möglicherweise langjährige, Guerillakultur im eigenen Lande zu unterdrücken?

Das politische Schlüsselwort der Stunde, vor allem in Hinblick auf das internationale Parkett und unabhängig von der militärischen Offenvise der Regierung heißt jedenfalls Dialog. Schließlich hatten die Auseinandersetzungen zeitgleich mit dem mit Spannung erwarteten Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) begonnen – ein von den Guerilleros durchaus gewollter Zusammenhang, um auf die durch den Pakt „verstärkte Ausbeutung“ der Bevölkerung aufmerksam zu machen.

Um jeden Preis, so Regierungssprecher, wolle man „bosnische Zustände“ im mittelamerikanischen Schwellenland vermeiden. Allerdings berichten die Bischöfe der drei Gemeinden Tapachula, Ocosingo und San Cristóbal, die gegenwärtig in Kontakt mit der Zapatisten-Bewegung stehen, daß diese bislang keinerlei Dialogbereitschaft mit offiziellen Stellen erkennen lasse.

Selbst die Gruppe „Demokratie 2000“ innerhalb der Regierungspartei PRI warnt bereits jetzt davor, daß sich die fortschreitende Destabilisierung von Chiapas durchaus auf Regionen mit ähnlicher sozialer Problematik wie die benachbarten Bundesstaaten Tabasco, Oaxaca, Yucatán, Campeche und Quintana Roo ausweiten könnte.

Die Wut der verarmten Indianer von Chiapas, die sich jetzt in einem bewaffneten Aufstand niederschlug, kommt keinesfalls von ungefähr. Das wird auch von Regierungsseite nicht gänzlich verkannt. In den ersten, erstaunlich moderaten, Erklärungen von Präsident Salinas und Innenminister Patrocinio González Garrido, der bis vor einem Jahr selbst Gouverneur von Chiapas war, ist von dem sozialen Sprengstoff der Region die Rede, der zwar den Gewaltausbruch keinesfalls rechtfertige, ihn aber doch teilweise erklären könne. Eine Abordnung von Funktionären des Sozialministeriums traf Dienstag in Tuxtla Gutierrez ein, um in Begleitung des Gouverneurs Elmar Seltzer vor Ort die ersten Gespräche zur Klärung der „brennenden sozialen Konflikte“ zu führen.

Elend, Repression und Ausbeutung haben in Chiapas eine lange Tradition: die mexikanische Revolution von 1910 war in den entlegenen Südzipfel des Landes nicht vorgedrungen, um die jahrhundertealte Kazikenoligarchie zu beseitigen. Bis in die siebziger Jahre war die feudal anmutende Herrschaft von Großgrundbesitzern (hacenderos) und Viehhaltern (ganaderos) weitgehend ungebrochen. Dies änderte sich im Jahre 1974, als sich erste soziale Organisationen von Campesinos, StudentInnen und LehrerInnen zu formieren begannen, immer unterstützt von einer stark in den Gemeinden verankerten katholischen Kirche „von unten“. Die „Lösungsvorschläge“ der seit fast 20 Jahren anhaltenden politischen Krise der Region hatten sich bislang auf die verstärkte Armeepräsenz und Militarisierung der Zone beschränkt.

Die bei den indianischen Campesinos ohnehin nicht sonderlich beliebten Streitkräfte werden nun, nach den jüngsten Bombardierungen, einen Ausweg aus der sozio- militärischen Krise vermutlich eher erschweren. Das geflügelte Wort von einer „Vietnamisierung“ oder „Zentralamerikanisierung“ des bislang als politisch stabil geltenden Mexiko erfreut sich zur Stunde zunehmender Beliebtheit im Land.