Autos raus!
: Die Stadtzentren stehen am Rand des Krebstodes

■ Die Innenstadt erleidet in absehbarer Zukunft den Automobiltod oder überlebt als Fußgängerstadt

Allein in Italien existieren noch mehr als 700 Stadtzentren, die bereits in vorrömischer Zeit bekannt waren, also mehr als 2.500 Jahre alt sind; in ganz Europa gibt es Tausende dieser jahrhundertelang gewachsenen Stadtstrukturen.

Etwas, was sich so lange in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gehalten hat, muß unbestreitbare Vorzüge haben, weil es so viele Krisen, Katastrophen und den jeweiligen Mainstream überstanden hat.

Die katastrophalen Auswirkungen des Automobils kann man daran ermessen, daß diese Zentren überall in Europa über Jahrtausende ohne das Automobil existierten und nur 40 Jahre mit ihm, und diese 40 Jahren haben gereicht, um sie fast alle an den Rand des Krebstodes Verkehrskollaps zu bringen.

Die Innenstadt ist eine durch und durch europäische Struktur, sie taucht beispielsweise in Amerika nicht auf. Sie wurde nicht nachgebaut, und sie wird karikaturhaft nachempfunden in den sogenannten Malls, dem Gegenteil vom urbanen Leben. Das sind überdachte Einkaufszentren sehr großen Ausmaßes, die angeblich dem europäischen Dorf- oder Stadtcharakter nachempfunden worden sind, und zwar von einem Österreicher.

Sie werden abends abgeschlossen, und tagsüber sind sie genau das Gegenteil von urbanem Leben. Es sind reglementierte, streng durchorganisierte und für eine bestimmte Käuferschicht – die Mittelklasse – dekorierte Scheinwelten, die mit einer Innenstadt nichts mehr gemein haben. Am Potsdamer Platz von Sony und Daimler-Benz errichtet, werden wir bald die ersten Exemplare genau dort stehen haben, wo wir einstmals eine Innenstadt hatten.

Ziel des Ganzen ist es, das Automobil und die Innenstadt miteinander zu verbinden. Allen Beteuerungen zum Trotz laufen die Planungen nicht auf eine Stärkung der historischen Stadtzentren hinaus, sondern auf ihre endgültige Abschaffung durch die Malls. Der Versuch, das Auto so zu integrieren in das Konzert zwischen Kommerz und Automobilindustrie ist also der endgültige Tod der Innenstädte.

Die meisten Architekten, Städteplaner und Verkehrsplaner machen mit, ja, sie kapieren noch nicht einmal, was sie tun. Wenn das so weitergeht, wird es bald in Paris, London, Berlin, Gütersloh oder Heilbronn gleich aussehen, und die Scheinblüte des öffentlichen Nahverkehrs, die ursächlich etwas mit der Rettung der Innenstadt zu tun gehabt hätte, wird vorbei sein. Die europäische Innenstadt erleidet also entweder den Automobiltod oder überlebt als Fußgängerstadt. Es geht mir also an dieser Stelle gar nicht um die Umweltfrage, sondern um eine andere Lebensphilosophie und um eine andere Planungskultur. Das ist eine technische Umwelt, in der der Mensch im Grunde keine Rolle mehr spielt, sondern nur noch als Konsument die ihm zugewiesenen Funktionen übernimmt, das andere ist die Gestaltung der Stadt durch ihre Bewohner und erst dann durch Stadtplaner, Architekten und Verkehrsplaner. Die Verkehrsplanung hat in diesem Falle die negative Funktion der Sterbehilfe.

Alle Versuche, die Stadt autofähig zu machen, und wenn es auch noch so kleine und umweltfreundliche Autos sind, führt zum Tod der Stadt. Dabei gibt es auch nicht das freundliche Miteinander oder die Ergänzung der Verkehrsträger, sondern nur das harte Entweder-Oder.

Wenn aber die historischen Wurzeln unserer Stadtstrukturen so stark sind, daß sie sich gegen diese Kommerzinteressen durchsetzen können, dann würde das Gegenteil erreicht. Dann müßten aber die Händler, die Verbraucher und die Produzenten kapieren, daß es eine europäische Dimension des Wirtschaftslebens gibt und daß diese Dimension ursächlich verknüpft ist mit der Innenstadt.

Diese ist aber so dicht, daß sie für Autos ungeeignet ist, und gerade noch so weit, daß eine Straßenbahn hineinpaßt. Sie bleibt ansonsten dem Fußgänger und dem Fahrradfahrer vorbehalten, und sie ist durchgehend geöffnet und weithin unorganisiert.

Wie man eine autofreie Stadt technisch-planerisch machen kann, das ist auch schon in Europa seit Jahrhunderten erprobt. Die Vorlage hierfür heißt Venedig, eine Stadt im Wasser, ohne Autos, nur für Fußgänger. Die Vorlage im Land Brandenburg hieße Potsdam, eine Stadt, umgeben von Wasser, ehemals durchzogen von Kanälen – einfacher geht es nicht, man muß es politisch nur machen wollen. Es wäre viel billiger als alle Hoch- und Tiefgaragen, viele Tunnelbauten und was man noch sonst alles braucht, um das Automobil in der Stadt einigermaßen erträglich zu machen. Hans-Joachim Rieseberg

Der Berliner Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise.